Sechseläuten 2016 (Andreas Kubli/Anders Mathis)

Das wichtigste des 120igsten Sechseläutens in Kürze

Ganz den Eingangsworten der Einladung aus Gottfried Kellers Gedicht „Morgen“ folgend erwarteten wir gespannt das schönste Fest im Jahr: Das Zürcher Sechseläuten!

So oft die Sonne aufersteht,
Erneuert sich mein Hoffen
Und bleibet, bis sie untergeht,
Wie eine Blume offen;
Dann schlummert es ermattet,
Im dunklen Schatten ein,
Doch eilig wacht es wieder auf
Mit ihrem ersten Schein

Und wir wurden nicht enttäuscht:

– Die altehrwürdige Zunft zu Safran Luzern sorgte für „es rüüdig schös Sächsilüüte“ und bewies damit, dass die Luzerner doch keine Batzenklemmer sind.

– Unser Zunftmeister plädierte in einer flammenden Rede für fruchtbare Gespräche als Wiege der Demokratie – wie wenn er schon eine Vorahnung gehabt hätte, welche Tendenz sich in der Welt über das Jahr hinweg offenbaren würde.

– Chris von Rohr outete sich als altersweiser Hippie mit durchaus liberalen Gedankengut und historischem Respekt.

– Der neue Bööggbauer Luki Meier verbööggte es weniger, als wir zuerst dachten, wobei die Frage nach Ursache und Wirkung natürlich wie immer offen bleibt.

– Die Sprecher Christian Mathys, Christian Jenny und Martin Menzi legten bei der Zunft zu den drei Königen, bei der Zunft zur Schiffleuten und bei der Zunft zur Schneidern Ehre für die Zunft Hottingen ein.

„Gastkanton“: Dank der Zunft zu Safran doch en rüüdig schöne Gastkanton

Nachdem der Kanton Luzern seine Zusage als Gastkanton für das Sechseläuten 2015 peinlicherweise zurückgezogen hatte, machte die Zunft zu Safran Luzern diesen Affront dieses Jahr in sehr grosszügiger Art und Weise mehr als wieder wett. Mit einem Tross von rund 300 Zünftlern verbrachten sie vier grandiose Tage in Zürich. Mit dabei war viel Luzerner Prominenz – Gerüchten zufolge sei aber peinlich darauf geachtet worden, dass keine gemeine Magistraten „Sechseläuten-Crashing“ begehen könnten. Alleine am Freitag waren 2000 bis 3000 Gäste auf die Fritschi-Stube auf den Lindenhof gekommen, wo Luzerner Spezialitäten wie Kafi Fertig und Tagessuppe (Gin Tonic) bis weit in die Nacht hinein reissenden Absatz fanden. Ob dies der barocken Festfreude der Luzerner, den „Wikingern“ oder dem nasskalten Wetter geschuldet war, sei offengelassen.

Als Ausdruck der besonders nahen Beziehung mit den Safranern bescherte der „Gastkanton“ uns Hottingern zum Zmittag und Znacht zwei kulinarische Entdeckungsreisen nach Luzern, inklusive einige der 3000 Fritschi- bzw. Chögelipasteli die der Fritschivater 2016 Seppi Kreyenbühl in seiner gleichnamigen Bäckerei für das Sechseläuten hergestellt hatte. Dank unseres Zunftspiels kamen wir in den Genuss von Sounds of Lucerne. Und kurz nach Mitternacht kam dann gar ein Besuch der Safraner samt maskiertem Bruder Fritschi, seiner Fritschene, dem Rest der Fritschifamilie, dem gesamten Sempacher Harst und einem Sprecher mit Gedicht hinzu.

Vorspiel: Schöne Bälle am Samstagabend mit und schöner Kinderumzug ohne Wetterglück

Zum letzten Mal vor dem Hottinger Balltriptichon 2017-2019 (Hottingerfäscht 2017, Sechseläutenball 2018 im The Dolder Grand organisiert durch die Zunft Hottingen, und Hottingerfäscht 2019) hatten die Hottinger die Qual der Wahl. Einmal mehr waren die Sechseläutenbälle wieder zahlreich: Sechseläutenball im Hotel Baur au Lac, Ürtenball im Zunfthaus zur Saffran, Ball mit Knall im Storchen, Jungzoifterball im Zunfthaus zur Meisen, Möischterhofball uf de Waag, Ober-Ball im Ober-Haus, Tanz den Böögg im Zunfthaus zur Zimmerleuten, Widderball im Zunfthaus zum Widder und Zoiftigi Nacht im Zunfthaus zur Schmiden. Nicht zuletzt dank einem Gesellen-Anteil von 40% Hottinger Zünftern war der Uertenball vermutlich der Ball mit anteilig grösster Hottinger-Delegation. Natürlich wurde auch dort wie immer bis weit in den Morgen hinein getanzt und gefestet. 

Die NZZ, der Tagesanzeiger und gar der Blick sollten es nachher träf mit „Edelfräuleins in Pelerine“, „Kostüme, Regen, Sugus und gute Laune“, „Begeisterte Teilnehmer am Zürcher Sechseläuten-Kinderumzug“ beschreiben. Ja, schon der 154. Kinderumzug hatte kein Wetterglück. Nachdem sich die Sonne kurz vor dem Umzugsbeginn noch rasch gezeigt hatte, setze dann pünktlich zum Abmarsch ein leichter aber beständiger Regen ein. Trotzdem liessen sich fast 2700 Kinder, über 800 Musiker und 150 Begleiter ihre Freude nicht nehmen, inkl. einer über 60 Kinder starken Hottinger-Schar in der Biedermeier-Gruppe.

Sechseläutenmittag: Wegweisende Zunftmeisterrede, verdiente Ehrengäste und Gäste und einTroe fleischgewordene Voodoo-Puppe

Fertig Darkroom: Eingeleitet von einem heiseren und (vergeblich) um eine Schonung seiner Stimme bittenden Stubenmeister begrüsste der Zunftmeister im zum 60. Sechseläuten neu ganz weiss gemalten Zunftsaal Alt-Zunftmeister, Zünfter, Bewerber, Gesellen, Kandidaten, Interessenten, motivierte Schankburschen und nicht weniger als 27 Ehrengäste und Gäste. Neben den Ehrengästen zählten dazu als Gäste der Zunft:

– Frau Kathrin Zehnder-Hatt, als Dank für ihren jahrzehntelangen Beitrag für das Zürcher Zunftwesen (u.a. als Chefin für Billette/Sitzplätze im ZZZ)

– Herr Martin Schmassmann, Präsident des Quartiervereins Hottingen, als Zeichen der unter dem Motto Begegnung-Dialog-Freundschaft stehenden wichtigen Zunft-Quartier Verbindung – und nicht wegen seiner Bereitschaft für uns einen Anzug anzuziehen

– Herr Andreas Bögli, Technischer Leiter des Theaters am Neumarkt, als Dank für seine superverlässliche Unterstützung des Zeugamts – und explizit nicht für die immerwährende Themenlieferung für Sprecher auf unserer Stube

– Eine Dreierdelegation von Gotthardbasistunnel-Mineuren stellvertretend für alle, die einen Beitrag zum längsten Eisenbahntunnel der Welt geleistet haben – und nicht als Vertreter unseres südlichen Nach- bzw. deren Vaterlands, das das Bezahlen der Rechnung vergessen hat

– Eine Dreierdelegation des Schweizer Zofingervereins, sicher nicht für deren am Abend statt im Vollwichs in Boxershorts vorgeführte wirre „Wiederköppelung“ und vermutlich auch nicht für die dadurch Chris von Rohr gelieferten einfachen Pointen-Vorlagen.

Der Zunftmeister stellte die Diskussionskultur bzw. die Angst um deren Verlust ins Zentrum seiner Rede, wie wenn er schon ein Vorahnung gehabt hätte, welche Tendenz sich in der Welt über das Jahr hinweg im Vereinigten Königreich, in der Vereinigten Staaten und auch an vielen anderen Orten offenbaren würde. Dass er dabei mit dem „Fruchtbare Gespräche sind die Wiege der Demokratie“-Zitat des bekennenden Solothurner Sozialisten Peter Bichsel startete, zeigte schön, wie universell uns dieses Thema unabhängig unserer politischen Position betrifft. Anhand eindrücklicher Beispiele konnte uns der Zunftmeister konkret aufzeigen, dass es heute sogar noch um deutlich mehr als um eine von voreiligen Kompromissen gezeichnete Diskussionskultur in „des Schweizers Schweiz“ geht: Aus Angst dass sich jemand gekränkt fühlen könnte, verhindert die sogenannte New Political Correctness die Aufarbeitung zentraler Themen. Dies wiederum öffnet der anderen Seite Tür und Tor die Auseinandersetzung statt via zusammenhängende Argumentationsketten, via Beleidigungen zu führen, zuerst in der Anonymität von Onlineforen und unterdessen auch ganz offen und offline. Gerne nahmen wir die Aufforderung des Zunftmeisters an, die Gesprächskultur innerhalb und ausserhalb der Zunft hochzuhalten.

Die kurze Pause vor der Vorstellung der Ehrengäste nutzte eine gleichermassen herzige wie vorlaute Kinderdelegation der Zunft Schwamendingen für einige gutgemeinte Tipps im Umgang mit unseren Ehrengästen. Wieweit der Chris von Rohr betreffende „Give him a f***ing break“-Ratschlag darauf zurückzuführen war, dass man nun selbst in Schwamendingen Englisch als erste Fremdsprache spricht, oder ob mit dieser sprachlichen Anbiederung das Selfie mit dem Rockmusiker und Buchautor gesichert werden sollte, kann offen bleiben.

Vor der Vorstellung des mit Ausnahme der Vertreter der Zunft zum Kämbel vermutlich ersten Kopftuchträgers auf unserer Stube stellte der Zunftmeister in Umkehr der Einladungs-Reihenfolge Marcel Perren, den Direktor von Luzern Tourismus und vermutlich ersten legitimen Nachfolger des legendären Kurt H. Illi vor. Anders als von der Schwamendinger Kinderdelegation impliziert, beteiligte er sich mit Luzern Tourismus an der Wiedergutmachung der Luzerner 2015er Schande – nicht nur, indem den Sechseläuten-Samstag auf dem Lindenhof übernahm, sondern auch gleich zum Nachsechseläuten 2017 ins „Ballenberg der Greater Zurich Area“ einlud. Hoffen wir nun, dass er auch dort eine Ausnahme von seinem Ruf macht und auch wieder nicht als erster geht!

Obwohl Chris von Rohr, Rockmusiker & Buchautor, schon fast so bekannt ist wie ein bunter Hund, schaffte es der Zunftmeister, einige doch eher überraschende Facetten ans Tageslicht zu bringen. Beispielsweise wussten vermutlich die wenigsten, dass Krokus den ersten Auftritt im Vorprogramm von Nella Martinetti gegeben haben soll. Und dass Chris mit Christoph Blochers Badge im Bundeshaus für „Meh Dräck“ sorgte oder in einer formidablen Jugendstilvilla mit wehender Piratenfahne wohnt. Statt darauf mit einer Rede zu replizieren, hatte der Zunftmeister anschliessend die Gelegenheit die Fragen, die er schon immer losbringen wollte, in einem Interview zu stellen. Und siehe da, auch wieder Erfrischendes, wie zur generellen Richtung „Ich vertraue mehr dem Individuum als dem Staat“ und „Ich glaube, dass Kapitalismus besser ist“. Oder zur Freiheit: „Wir sollten nicht übermütig die den Vorfahren zu verdankenden Kronjuwelen verschenken. „Oder schön zum Schluss: „Es geht nicht darum, die Asche der Ahnen reinzuwaschen sondern ihre Fackel weiterzuführen.“

Umzug der Zünfte: Verbööggter Sommer?

Wie von unserem Ehrengast geheissen, rockten wir gemeinsam die Stadt. Den Anfang bildete wie immer der stolze Blick auf die kostümierte Hottinger Kinderschar in Zunftstube. Der Umzug selbst war aufgrund des Regenfalls, zumindest für die Zünfter, trotz immerhin 9. Stelle eher unspektakulär. Anders muss es vermutlich für Chris gewesenen sein, der seine Groupies für einmal kilometerweise am Strassenrand begrüssen konnte.

Spektakulär (lang) war aber der Böögg. Er leistete (zumindest im Zweithorizont der Schreibenden) rekordmässige 43 Minuten Widerstand. 1970 und 1988 waren es 40 Minuten, bevor der Kopf schliesslich zu Boden fiel und dort explodierte. Da nützte es dann auch nichts mehr, dass die Hottinger Reiter dank dem entfesselten Zunftmeister als einzige eine Ehrenrunde um den Böögg ritten. Viel zu reden gab dies über den Schwamendinger Luki Meier, den neuen Bööggbauer, der nach einer siebenjährigen Lehre bei Heinz Wahrenberger dieses Jahr seinen ersten Böögg ganz alleine gebaut und dies auch medial inszeniert hatte. Zuerst sah es nach Blamage aus. So berichtete der Blick reisserisch über den Fail-Böögg 2016, dass es Luki verbööggt hätte. Im Nachhinein sollte dieser aber zumindest teilweise Recht behalten: Der Juni bot nur vereinzelt sonnige Tage, der ganze Sommer rekordhafte Niederschlagsmengen. Da bleibt einzig die Frage nach Ursache und Wirkung.

Auszug: Sterile Stimmung bei der Zunft zu den drei Königen, defensive Replik bei der Zunft zur Schiffleuten und genialer Unsinn bei der Zunft zur Schneidern

Zurück auf der Stube stärkten sich die frisch geduschten Zünfter flüssig und fest. Ausserordentlich war insbesondere der von Heini Dubler aus Anlass seines Geburtstags gestiftete Lieblingsdessert: Schwarzwäldertorte vom Sprüngli. Gesungen hatten wir ja schon am Mittag. Dann ging es, alles zu Fuss, auf den Auszug. Zuerst zur Zunft zu den drei Königen, dann zur Zunft zur Schiffleuten und schliesslich zur Zunft zur Schneidern. Bei den Drei Königen hatte Christian Mathys die nicht ganz einfache Aufgabe, in der renovationsbedürftigen, 364 Tage im Jahr Gartensaal genannten kleineren Kongresshaus-Halle für Stimmung zu sorgen. Hinzu kam, dass die Zunft selbst, wie Christian anhand eines typischen Engemer Zunftjahres sehr plastisch darstellte, beschränkten Unterhaltungswert hat. Kein Wunder, dass Abstimmungspropaganda für die Juni-Kongresshausabstimmung das Kernstück der Replik von Zunftmeister Walter H. Käser bildete. Nachdem sich diese dann ja auszahlte, lässt sich nur hoffen, dass mit dem Abbruch und Neubau des Gartensaals etwas mehr Pfupf in die Sache kommt. Etwas einfacher hatte es da Christian Jenny bei Dr. Peter K. Neuenschwander, dem Zunftmeister der Zunft zur Schiffleuten. Da gaben das Abschaffen des Fischwerfens, der Datumslapsus des Zeugwarts Tom Prenosil und natürlich die auch nach bald 700 Jahren immer noch fehlende Reitergruppe schon mehr her. Die doch eher historisch defensive Replik des Zunftmeisters zeigte, dass Christian hier am Nerv der Sache war. Erfahrener Profi gegen erfahrenen Profi in schöner Umgebung bzw. Martin Menzi gegen Zunftmeister Jörg Zulauf im Königsstuhl hiess es dann zum Schluss. Es ging um Entsamungsmaschinen, Sportprogramme und Asien. Oder anders gesagt: Inhalt null, Feuerwerk hundert.

Den miesen Wetterbedingungen zum Trotz war es auch dieses Jahr ein tolles Sechseläuten. Insbesondere der späte Besuch unserer Luzerner Safraner-Freunde war ein fulminantes Schlussbouquet eines freudigen Wochenendes. 

 

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