Sechseläuten 1967
Im Jahr 1859 wurde der 100. Geburtstag des Dichters Friedrich Schiller mit einer Feierlichkeit begangen. Auf diesem festlichen Anlass dichtete Gottfried Keller einen längeren Prolog, dem ich die folgenden Verse entnehme:
„Doch was der Väter Schwert nachhaltig schuf Was der Geschlechter treue Denkart wahrte Und was des Himmels Sonne hell besiegelt: Nicht ist es uns ein Bett der trägen Ruhe, Der Buhlerin des grauen Unterganges! Nein, rüstig leben wir und tun es kund Im rastlos wachen Fleiss, der sich ergeht In Talesgründen und auf lüft‘gen Höhen…‘‘
Die Lebensbahn Gottfried Kellers fällt in die Zeit, da sich der eher locker gefügte Staatenbund nicht ohne Zeiten der Spannungen und Wirrnisse zum heutigen Bundesstaat entwickelte. Keller hat am Reifungsprozess des politischen Gedankens intensiv teilgenommen, zuerst in jugendlichem Radikalismus bei einem Freischarenzug oder als Verfasser bissiger Verse gegen politische Reaktion, später immer mehr jedoch als Mann des Masses und des gläubigen Vertrauens in das im neuen Vaterland geeinte Schweizervolk. So ist er recht eigentlich zum Sänger des Vaterlandes und des Volkes geworden. Wenn von der „Väter Schwert“ die Rede ist, so erinnert er uns in diesem Vers an eine Wurzel unseres nationalen Daseins: sie heisst Kampf. Kampf nicht nur mit dem Schwerte, Kampf oft auch der Meinungen und der Beredsamkeit. Das Schlachtfeld wird vom Parlament abgelöst. Sodann folgt sogleich die zweite Säule, die Keller sowohl als auch uns Heutigen viel bedeutet: „Was der Geschlechter treue Denkart wahrte“ meint doch nichts anderes, als was wir Tradition nennen. Keller, in jungen Jahren dem stürmischen Fortschritt zugetan, steht jetzt im 40. Lebensjahr, in den besten Mannesjahren, wie wir sagen würden. Und es ist ihm klar geworden: Ohne Traditionen, d. h. ohne Überlieferungen, leben wir dem reinen Augenblick, bestenfalls der Zukunft. Was aber vermag uns Zukunft zu bedeuten ohne ihr Gegenstück,die Vergangenheit ? Tradition gibt uns Sicherheit und innere Ruhe. Diese Meinung Kellers mögen wir heute bedenken, da uns die sogenannten Nonkonformisten vorwerfen, wir hätten unterm sichern Dach fester Tradition bald einmal jeglichen frischen Zug verloren. Auch Keller will nichts wissen von muffiger Luft und Duckmäusertum. Im Gegenteil: Wer die Leistungen seiner Vorfahren als Anlass zum Ausruhen nimmt, der ist dem Untergang nahe. Die „träge Ruhe“ ist die „Buhlerin des grauen Unterganges“. Der faden Zufriedenheit mit dem Gewordenen setzt Keller daher einen Appell entgegen: „Rüstig“ sollen wir leben, „rastlos“ soll unser Fleiss sein. Goethe hat diese Auffassung auf eine Formel von letzter Prägnanz gebracht: „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“. Genau so meint es auch Gottfried Keller, und er gibt dabei in beschwingter Form dem allgemeinen Glauben der Epoche um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Ausdruck: Tätigkeit, Tüchtigkeit sind die Garanten eines ständigen Fortschritts und des allgemeinen Wohlergehens. Vergessen wir jedoch nicht: Besungen wird der Fleiss eines Zeitalters, das noch ohne Mechanisierung oder gar Automatisierung seiner Produktionsprozesse auskommen musste. Vergessen wir auch nicht, dass hier die Rüstigkeit einer Epoche besungen wird, die einen späten Feierabend, jedoch kein Freizeitproblem kennt. Diese zwei Hinweise nur auf die Gegenwart zeigen uns: Es sind mehr als hundert Jahre vergangen, da unsere Verse gedacht und gedichtet wurden. Und 100 Jahre in der Moderne entsprechen vielleicht 10‘000 Jahren der Vorzeit. So gesehen wird uns unsere Verpflichtung deutlich: Den Gottfried Keller von 1859 können wir nicht einfach imitieren. Wenn wir aber anschliessend die Verse nochmals hören, dann lasst uns innerlich bedenken, welches die unserer Gegenwart angemessene Form sei, um dem, was Keller meint, nachzuleben:
„Doch was der Väter Schwert nachhaltig schuf Was der Geschlechter treue Denkart wahrte Und was des Himmels Sonne hell besiegelt: Nicht ist es uns ein Bett der trägen Ruhe, Der Buhlerin des grauen Unterganges! Nein, rüstig leben wir und tun es kund Im rastlos wachen Fleiss, der sich ergeht In Talesgründen und auf lüft‘gen Höhen…‘‘