Sechseläuten 1975
Der Mann, an dessen Grab wir heute stehen, hat vor hundert Jahren in Zürich gelebt und gearbeitet; sein Arbeiten war ein Dichten, Erfinden, Phantasieren, nicht ein Belehren oder Beschwatzen.
Die Welt, in der er aufwuchs und alt wurde, die er mit seinem klaren Verstande durchschaute, mit seinem verletzlichen Herzen liebte und mit der Gabe des reichen, beherrschten Wortes beschrieb, war eine andere Welt, als wir sie kennen. Was es an uns vertrauten Dingen, Einrichtungen, Hilfen und Versuchungen damals nicht gab, sei jetzt nicht aufgezählt; wir wissen es. Er lebte in einem Kanton mit 250 000 Einwohnern; Zürich war eine Kleinstadt. Berufswelt und damit auch das Lebensgefühl, bis zur religiösen Empfindung, waren in Zürich geprägt vom Bauern und vom Handwerker. Der Rebbau stand 1855 auf seinem Höhepunkt – seine bebaute Fläche war sechsmal grösser als heute. Die entzweienden Kämpfe um den Bundesstaat waren vorbei, von beiden Seiten suchte man auf der schmalen Trennlinie zwischen Zentralismus und Föderalismus wieder gemeinsame Schritte zu tun. Der beginnenden Industrialisierung schlug der begreifliche Argwohn des Hergebrachten, des Stabilen entgegen.
Die Hauptunruhe wogte aber nicht im wirtschaftlichen oder sozialen Bezirk. Jene wohlgefügte Ordnung, „die in verjährt geheiligtem Besitz, in der Gewohnheit festgegründet ruht“ (Wallenstein), sie wurde herausgefordert aus einer anderen Ecke der menschlichen Aktivität: von der grossen geistigen Bewegung der Aufklärung und von der grossen politischen Bewegung des Liberalismus. Der kirchliche und der weltliche Feudalismus wurden in der Schweiz, als einzigem Lande Europas, schliesslich gestürzt, und zwar auf Dauer.
Das Neue, damals angesiedelt im Reiche des Denkens und der Politik – nicht wie heute im Reiche der Naturbeherrschung -, traf zusammen mit dem Alten, Liebgewordenen, Vertrauten, aber auch Morschen und Abgegriffenen.
Die verbreitete Vorstellung, früher habe es weniger Konflikte gegeben als in unserer so schlimmen Gegenwart, die alte Zeit sei eben doch eine gute gewesen, diese Vorstellung ist falsch. Gottfried Keller lebte, und es spiegeln es seine Werke, in einem starken Spannungsfeld zwischen dem Alten und dem Neuen. Er gilt als Sänger des Neuen, aber er war vor allem fasziniert von den Konflikten, ihrer Lösung und Nichtlösung. Er bejahte die Konflikte, aus ihnen als dem Ur- und Grundstoff des Menschengeschlechts gestaltete er in den Romanen und Novellen die so lebensnah, so realistisch wirkenden Verwicklungen und Versöhnungen, Leiden und Freuden im Verhältnis der Menschen untereinander: zwischen Mann und Frau, Vater und Sohn, alt und jung, arm und reich. Konflikte sind, das lehren uns seine Werke, dem Menschen gemäss, sie sind die Voraussetzung, dass sich das ebenso angeborene Bedürfnis nach Harmonie, nach gemeinsamer Arbeit und gemeinsamen Zielen überhaupt erst entfalten kann. Insofern steht Keller den neuen Einsichten über das menschliche Sein und die menschliche Seele sehr nahe.
Das Sechseläuten verleitet dazu, die Vergangenheit höher zu stellen, ja zu achten als die Gegenwart – und warum sollen wir nicht einmal in der Vergangenheit, genauer in unserer Meinunq von der Vergangenheit, schwelgen? Mit Händen zu greifen ist vorab die Versuchung, Gottfried Keller als Kronzeugen einer unschuldsvollen und von keinem Zweifel angekränkelten Vaterlandsliebe in Anspruch zu nehmen. Wir, und die Zunft Hottingen verspürt diese Lust am meisten, weil sie den Dichter gewissermassen zu ihrem Ziehvater erkoren hat, wir möchten ihn gerne am Sechseläuten als den heimatverwurzelten Lobredner unserer Tugenden und nachsichtigen Verklärer unserer Nichttugenden hören, indem wir ihn fleissig zitieren; und wenn wir dann diesem Barden alles Guten und Schönen erst noch, bildlich gesprochen, beim Gang zum oder vom Zunfthaus an der einstigen Zechrunde auf die Schulter klopfen dürfen, ist er ganz ins Gegenwärtig-Gegenständliche gehoben.
Nun war er eben kein Heimatdichter dieses Zuschnitts, wollte es nie sein. Das zeigen uns Briefe aus der Entstehungszeit der Novelle „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“, dieses am meisten patriotischen Stückes. Beim deutschen Verleger der Geschichte beschwerte er sich über einen österreichischen Flüchtling, der hierzulande eine „nationale Kunst und Literatur“ von Stapel lassen wolle. Das sei ein „Schreibeschwindel“ und eine „völlige Sündflut“. Mit „überschweizerischer philiströser Ruhmrednerei und Duselei“ wolle er nichts zu schaffen haben. Seine Erzählung solle „die Freude am Lande mit einer heilsamen Kritik“ verbinden – die Kritik tut sich indirekt kund, indem er die patriotischen Kundgebungen mit ironischer Färbung schildert und die politischen Passagen mit der ganz alltäglichen Geschichte vom armen Sohn und der reichen Tochter, die sich schliesslich doch kriegen, verbindet. Das Preislied auf Schützenfest und Festwein, gipfelnd in der zur Zitatengrube gewordenen Festrede, ist durchwirkt vom Schalk, der die braven Männer und ihre rühmliche Veranstaltung in das Mass des Natürlichen zurückholt. In Kellers eigenen Worten ist eine der Lehren der Novelle ganz unpolitisch: „Die Weiber und Kinder besiegen aber schliesslich die Alten und Erprobten.“
Das Beisammen von Festschwang und Gebrechlichkeit, von Pflichtaufwallung und Schlaumeierei: fast scheint es, als ob Keller darin schweizerische Eigenart sähe. Er selbst bettet im „Fähnlein“ die politische Aussage in die freie dichterische Gestaltung von Menschen ein. Später rückt er bewusst noch einen Schritt weiter ab von der fröhlichen Belobigung des Bundesstaates im „Fähnlein“, nannte das Ding „ein antiquiertes Grossvaterstück“, weil ihm die patriotisch-politische Zufriedenheit und der siegreiche altmodische Freisinn 18 Jahre nachher „wie verschwunden“ vorkamen. Was beschäftigte ihn nunmehr? Soziales Missbehagen, Eisenbahnmisere, „eine endlose Hatz“. Die Änderung der Umstände und damit der Probleme ärgerte ihn nicht; er wandte sich dem je Aktuellen, Gebotenen zu.
Was sagen uns die knappen Hinweise auf die Selbstbeurteilung einer uns besonders lieb gewordenen Erzählung durch deren Verfasser, einen Mann, den wir irgendwie immer noch als Mitbürger, als zürcherischen Mahner und Lehrmeister aus dem vergangenen Jahrhundert ansehen?
Wir pflegen aus den Werken der Berühmten gerne Urteile über Zeit und Menschen herauszupicken. Wir benützen sie als Lieferanten von Lebensweisheiten. Das ist einem dichterischen oeuvre gegenüber immer fragwürdig, weil der Autor uns ja nicht direkt belehren will, sondern über den Umweg seiner Erfindung, seiner Phantasie erbaut, erregt, herausfordert. Wir sollen Menschen erkennen, nicht Lehrsätze oder Zitate auswendig lernen.
Dauerhafter, weil auch für uns nachvollziehbar ist hingegen die Haltung gegenüber der Heimat, die Gottfried Keller an den Tag legt: mit wohlbedachter Überlegung wollte er zwei scheinbare Gegensätze gleichzeitig ausdrücken, nämlich einerseits die warme, kräftige Parteinahme für den neuen Bundesstaat und seine Vortrupps, anderseits die kritische Distanznahme von jeder Überidentifikation mit diesem Staat. Die Distanznahme galt nicht so sehr den Auswüchsen der eigenen Seite als vielmehr sich selbst, dem eigenen Feuerfassen: er wollte sich nicht mit Haut und Haar der Sache verschreiben, die er liebte und förderte. Sein Ziel war das Gleichgewicht in den Neigungen und Leidenschaften. Er bewahrte sich einen Raum der persönlichen Freiheit, indem er mit Humor und leiser Ironie die menschlichen Unvollkommenheiten auch in den idealsten Absichten und Veranstaltungen plastisch machte.
Genau diese Verbindung von Engagement und Distanznahme – den Eiferern ein Dorn im Auge, den Gleichgültigen ein Vorwand – ist heute schwer zu vertreten und schwer durchzuhalten. Landesväterlicherseits werden wir mehrfach belehrt, ein grosser Teil des Schweizervolks sei staatsmüde, staatsverdrossen, habe abgedankt – wie die tiefe Stimmbeteiligung und die vielen Nein zeigten. Ein rechter Schweizer müsse sich permanent engagieren – je komplizierter der Staat werde, umso permanenter. Der moralisierende Unterton ist hörbar: man engagiere sich aber beileibe richtig, nämlich man stimme den Vorlagen der Behörden zu, umso herzhafter, je weniger man von einer Sache verstehe.
Gehört es aber nicht auch zur Mündigkeit und zur Freiheit des Bürgers, ist es nicht auch Teil der Schweizer Art, dass man sich einen Raum der Kritik, der Distanz offenhält? Die Kritik nimmt gelegentlich die Form des emotionalen Neins an, die Distanz gelegentlich die Form des Beiseitestehens. Falsch ist es, die Neinsager und die Abwesenden pauschal als minderwertig hinzustellen; sie verkörpern mit ihrer Haltung auch einen Zug des Nationalcharakters eines freien Volkes. Man will uns heute von der Konkordanzdemokratie in eine Applausdemokratie hineinreden, wo plebiszitäre Vertrauenskundgebungen den überforderten Sachverstand des Bürgers ersetzen sollen oder würden.
Wir wissen nicht, was Gottfried Keller heute im einzelnen zu diesem oder jenem Ungemach, auch zu dieser und jener guten Entwicklung, sagen würde. Als praktischer und praktizierender Philosoph würde er vielleicht auch heute die Gewichte der entschiedenen Parteinahme und der schützenden Distanznahme in sorgfältiger, aber auch wechselnder Verteilung auf die Waagschale legen. Und wer weiss: die „endlose Hatz“, die er 1878 als den vorherrschenden Zeitgeist empfand, würde er nicht nur der privaten, sondern auch der öffentlichen Geschäftigkeit nachsagen und ihr gegenüber die Möglichkeit – und die Würde – eines persönlichen Gestaltungs- und Freiheitsbereichs schildern.
„Ich glaube“, sagt der aus Brasilien zurückgekehrte Sohn Arnold im Spätwerk Martin Salander, „es würde vieles erträglicher werden, wenn man weniger selbstzufrieden wäre bei uns und die Vaterlandsliebe nicht immer mit der Selbstbewunderung verwechselte: … Wenn wir nun etwa in ein schlechtes Fahrwasser geraten, so müssen wir eben hinauszukommen versuchen und uns inzwischen mit der Umkehrung jenes Wortes (partout comme chez nous) trösten: Es ist bei uns, wie überall!“