Rede am Grab 1977 (Dr. Felix Rogner)

Sechseläuten 1977

Hochgeachteter Herr Zunftmeister, liebe Freunde

Wir stehen am Ehrengrab Gottfried Kellers am heutigen Festtag der Zürcher Zünfte zuerst einmal aus örtlicher Verbundenheit. Gottfried Keller war ein Hottinger. Wir sind stolz darauf und geben seinem „Fähnchen der sieben Aufrechten“ jedes Jahr den Ehrenplatz in unserem Umzug.

Es ist aber auch geistige Verbundenheit, die uns Zünfter zu Hottingen hieher führt, eine Verbundenheit der Gesinnung. Gottfried Keller war kein weltfremder Poet, sondern ein scharf beobachtender, mit seiner Umwelt eng verbundener und in Zürich verwurzelter Schriftsteller. Eine seltene Mischung von künstlerischen Talenten und nüchternem Bürgersinn, von Schwärmertum und Realismus, von vornehmer geistiger Gesinnung und überraschend derbem Gesellentum. Wie jeder empfindsame Mensch hat er beides erlebt – bedrückende Tiefe und bschwingende Höhe. Sein künstlerisches Schaffen war beeinflusst sowohl von lähmender Enge der kleinbürgerlichen Stube, von wirtschaftlicher Not und nagenden Schulden, von erlittenem Unrecht in der Schulzeit, von Selbstzweifeln an seiner Berufswahl, vom Misserfolg bei der Suche nach einer Lebensgefährtin. Dann aber auch von unbeschwertem Leben in Künstlerkreisen deutscher Kulturstädte, von Glück, Anregung, Wärme und Unterstützung durch einen grossen Freundeskreis, von der Ehre eines wichtigen politischen Amtes, von der Anerkennung durch angesehene Zeitgenossen, und, für einen Dichter zu Lebzeiten vielleicht das wichtigste, von der Gewissheit, gelesen und verstanden zu werden.

Aufschlussreich für das Verständnis von manchen Figuren in seinen Werken ist Gottfried Keller‘s eigenes Leben. Als Student war er ein Bummler, zwar ein ernsthafter Sucher, aber nie ein fleissiger Streber; fast immer ein geselliger Mitmensch, ein guter Freund und vor allem ein wackerer Zecher. Im Leben hat er trotz äusserer Anfeindungen und innerer Zweifel seinen Mann gestellt. Er führte das Amt des Ersten Staatsschreibers des Standes Zürich fünfzehn Jahre lang mit Auszeichnung. Als Künstler schwieg er nach einer ersten Schaffensperiode als Maler und Schriftsteller während zwanzig Jahren fast völlig, um dann erst im Alter wieder, mit sechzig Jahren, seine schönsten und reichsten Werke zu schreiben. In ihrer Biographie über Gottfried Keller schreibt die Schriftstellerin und Kulturhistorikerin Ricarda Huch:“Er liebte Gesundheit, Ehrlichkeit, Freimut, Kraft, ganze Gefühle. Widerwärtig waren ihm Verlogenheit, Gespreiztheit, hohles Verstandeswesen, Kleinlichkeit, Eitelkeit, ohnmächtiges Wollen ohne Vermögen.“ Diese Aufzählung spricht für die Echtheit des Charakters und der Gefühle Gottfried Kellers.

Zum Dritten gibt es auch eine staatsbürgerlich-politische Verbundenheit zwischen Gottfried Keller und uns Zünftern zu Hottingen. In den Materialien zu „Martin Salander“, den Notizen also, die sich Keller für sein letztes grosses Buch gemacht hat, hält er seine Gedanken über die Voraussetzungen für das Weiterbestehen der Demokratie als schweizerische Staatsform fest. Sie sind von verblüffender Aktualität. Er schreibt:“Die heutige Republik, die nur noch bürgerlicher Natur mit gleichen Rechten sein kann, hat auch im modernen Leben nur Bestand mit einem gewissen Grade von Einfachheit und Ehrbarkeit. Wenn Luxus, Genusssucht und Pflichtvergessenheit überhand nehmen, lohnt die Aufrechterhaltung der Form und des Namens nicht mehr die Mühe, und die verkommene Gesellschaft fällt besser der nächsten monarchischen Zwangsanstalt anhin.“ Wohlverstanden: da ist nicht einer, der sagt, Kapitalismus sei falsch und ohne Zukunft, im Sozialismus liege die einzige Rettung. Nein, da ist einer, der sagt, wenn ihr der Freiheit einer republikanischen Staatsform nicht würdig seid, gehört euch die Peitsche der Diktatur. Ich frage Euch – wo gibt es heute Schweizer Schriftsteller, die Gleiches denken und Gleiches so klar und richtig sagen?

Als denkender, verantwortungsbewusster, kritisch beobachtender Staatsbürger hat Gottfried Keller sich auch mit Fragen wirtschaftlicher und technischer Entwicklung befasst. In den gleichen Notizen zu „Martin Salander“ schreibt er: „Es wird eine Zeit kommen, wo der schwarze Segen der Sonne unter der Erde aufgezehrt ist, in wenigen Jahrhunderten, als es Jahrtausende gebraucht hat, ihn zu häufen. Dann wird man auf die Elektrizität bauen. Aber da die lebenden Wälder jetzt schon langsam, aber sicher aufgefressen werden, wo werden die geregelten Wasserkräfte sein, welche die elektrischen Maschinen betreiben sollen ? Dahin führt das wahnsinnige „mehr, mehr, immer mehr!“ welche das „genug“ verschlingen wird.“ Die fast hellseherischen Gedanken müssen uns beschäftigen. Und was nützt es, wenn die Maschinen immer unfehlbarer werden – die Menschen sind es nicht! Dabei hängt unser Schicksal immer mehr von immer weniger Menschen ab. Ist es deshalb nicht ganz besonders wichtig, dass wir lernen zu wissen, wann und wo wir sagen müssen „bis hieher und nicht weiter“? Viele lächeln heute über die junge Generation, die wieder schwärmt von einem „zurück zur Natur“ wie seinerzeit Jean Jacques Rousseau vor zweihundert Jahren. Zugegeben, die Geschichte kennt kein Zurück. Aber es gibt Lehren aus der Geschichte, es gibt ein sich Besinnen auf Erhaltenswertes, auf Schützenswertes in unserem Land und von unserer Kultur. Die Wahrung der Unabhängigkeit in jeder Beziehung und die Freiheit gehören da sicher zuerst dazu. Die Freiheit ist nicht nur bedroht von Links oder von Rechts. Die Freiheit ist bedroht von unserem Verhalten.

Keiner unter uns wird wohl das gesamte Werk Gottfried Kellers verschlungen haben. So kommt auch jetzt die Poesie fast zu kurz, dabei sind die Gedichte Kellers etwas vom Berührendsten überhaupt. Ich will deshalb mit meinem liebsten Sinnspruch des grossen, verehrten Dichters abschliessen:

„Lasset uns am alten, so es gut ist, halten. Doch auf altem Grund neues schaffen jede Stund.“

Liebe Freunde, Gottfried Keller ruft uns auf, zu beobachten, nachzudenken, zu entscheiden und dann zu handeln. Für Zürich, für die Schweiz, für die Freiheit, für die Freundschaft in der Freiheit.

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