Sechseläuten 1981
Liebe Freunde
Habt Ihr Euch schon einmal überlegt, was Gottfried Keller sagen würde, wenn er uns hier an seinem monumentalen Grab stehen sähe? Wenn er uns sähe, einen Kranz auf sein Grab zu legen und andachtsvoll im Halbkreis davor zu stehen? – Es gibt viele Gründe, einem Verstorbenen die Referenz zu erweisen: Liebe Erinnerungen, ein schlechtes Gewissen oder der Wunsch, sich vom Glanz seines Ruhmes etwas bescheinen zu lassen und vieles mehr. – Ja was würde Gottfried Keller sagen, wenn er uns hier sähe? Er wäre etwas gerührt und misstrauisch zugleich und um das nicht zu zeigen, würde er in seiner barschen, bissigen Weise in den Bart brummen: „Was macht Ihr da für Affentänze, wisst Ihr nichts Gescheiteres zu tun, als hier im Wind zu stehen? Geht lieber in Eure Zunftstube, stosst mit einem guten Wein kräftig auf mein Wohl an und versprecht, wieder einmal in den Spiegel zu sehen, den ich Euch in Form meiner Geschichten und Gedichte vorhalte. Tut‘s und im übrigen freut Euch des Lebens, wie Euch der wackere Martin Usteri geheissen hat!“ – So etwa könnte Gottfried Keller‘s Standpauke beginnen, die er uns aus Anlass unseres Hierseins halten würde. Grab- und Personenkult waren ihm zuwider. Von Adolf Frey wissen wir, dass Gottfried Keller in späten Jahren einmal gesagt hat: „Man sollte meine Asche in ein Kesselchen tun und es den Studenten übergeben, damit diese dieselbe in die Limmat streuen können.“ „Aber freilich,“ habe er mit schalkhaftem Lächeln hinzugefügt, „man müsste ihnen dann auch ein rechtes Fass Wein zum Lohn spendieren!“ – Wie gesagt, von Grabkult hielt er nicht viel. Sicher hätte er sich auch lieber eine schlanke Föhre oder eine knorrige Eiche anstelle dieses schweren Steines gewünscht. Bäume waren ihm lieber als grossartig von Menschenhand Gebautes. Eines hätte er aber nicht verschmäht: Die Gelegenheit zu einer Standrede. Am liebsten waren Gottfried Keller solche Gelegenheiten, wenn sie sich vor einem jugendlichen Publikum, vor Gymnasiasten oder Studenten, ergaben. Hier war er gewiss, dass man ihn verstand. Er spürte, dass bei jungen Menschen seine idealistischen Gedanken, die er bis ins hohe Alter wach hielt, auf fruchtbaren Boden fielen. Eine zweite Gruppe von Zuhörern – und dazu gehören wir – war ihm aber auch lieb; die patriotischen Vereinigungen, denen das Wohl des Staates, das Wohl der Heimat, nicht gleichgültig sind. Auch hier wusste er, dass seine Mahnungen, der Bürgerpflicht zu gedenken und seine eigenen Interessen hinter diejenigen des Staates und der Mitbürger zu stellen, verstanden werden. Solche Mahnungen brachte Gottfried Keller nicht an, weil er ein geborener Schulmeister war, nein, Schulmeisterei lag ihm fern. Seine eindrücklichen, immer wiederkehrenden Ermahnungen, sich so zu verhalten, dass es zum Wohle des Staates gereicht, waren aus einer echten und tiefgründigen Vaterlandsliebe geboren. Das sittliche Zusammenleben der Bürger in einem wohlgeordneten und freiheitlichen Staastgebilde war ihm das Höchste. Er würde uns wahrscheinlich jetzt, ähnlich wie er es in seinem ersten Bettagsmandat getan hat, sagen: „…wir werden, liebe Mitbürger, am eidgenössischen Bettag mit der Bitte um das tägliche Brot die Bitte vereinigen: Lass unser Vaterland niemals im Streite um das Brot, geschweige denn im Streite um Vorteil und Überfluss untergehen!“
Der Gedanke, dass unserem Staatswesen im Wohlstande Gefahr drohen könnte, hat Gottfried Keller oft beschäftigt. Im ‚Fähnlein‘ lässt er Hediger sagen: „Glücklicherweise gibt es bei uns keine ungeheuer reichen Leute, der Wohlstand ist ziemlich verteilt; lass aber einmal Kerle mit vielen Millionen entstehen, die politische Herrschsucht besitzen, und du wirst sehen, was die für einen Unfug treiben!“ und „Es wird eine Zeit kommen, wo in unserem Lande wie anderwärts, sich grosse Massen Geldes zusammenhängen, ohne auf tüchtige Weise erarbeitet und erspart worden zu sein; dann wird es gehen, dem Teufel die Zähne zu weisen; dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch!“
Mit seinem Werk zu warnen und zu kritisieren, war ein ausgesprochenes Ziel von Gottfried Keller. In einem Brief an Berthold Auerbach schreibt er: „Die Freude am Lande mit einer heilsamen Kritik zu verbinden, habe ich in den ‚Leuten von Seldwyla‘ angefangen und setze es soeben in zwei weiteren Bänden fort, was eine ganz lustige Arbeit ist und ich denke, nach und nach damit klar und deutlich zu werden.“
Drei menschliche Züge nahm Gottfried Keller mit seiner Kritik hauptsächlich aufs Korn: den Fanatismus, das Etwas-sein-wollen, was-man-nicht-ist, d.h. das Äusserliche, das Falsche, das Hohle und die Profitsucht auf Kosten anderer. Zu diesen „anderen“ sind nicht nur Menschen zu rechnen, sondern auch die Natur, oder im heutigen Sprachgebrauch, die Umwelt. Dieses Profitieren auf Kosten anderer wird ganz deutlich in den Gestalten des Wohlwend und der windigen Gebrüder Weidelich im „Salander“. Bei letzteren sind alle Formen des unrechtmässigen Profitierens, die Keller anzuprangern pflegte, vertreten: Das Veruntreuen von Geld, das Veruntreuen politischer Ämter, das Veruntreuen von Vertrauen und das Veruntreuen von Gaben der Natur, von Wald, von Bäumen.
Bei diesem letzten Punkt müssen wir etwas verweilen. Bäume waren für Gottfried Keller etwas Besonderes. Keller hat an vielen Stellen den Tod von Bäumen als Sinnbild der Veruntreuung der Natur oder den der Umwelt gebraucht. Im „verlorenen Lachen“ lässt er die uralte Eiche einer schon vorher aus Profitsucht abgeholzten Waldkuppe wie ein Mensch, der ermordet wird, sterben. Im „Salander“ kommt der Baummord aus Profitsucht zweimal vor. Das eine Mal sind es die Platanen der Gartenwirtschaft der Frau Salander, die spekulativen Bauplätzen weichen müssen; das zweite Mal sind es die Buchen im „Lautenspiel“, die der verantwortungslose Notar zu Geld machen will, um seine Betrügereien zu decken.
Das frevelhafte Verhalten gegenüber der Natur war Gottfried Keller ein Greuel. Schon etwas resigniert, aber dennoch bissig, schrieb er in seinem „Bescheidenen Kunstreischen“ über den Baumbestand des Zürichhorns, neben dem der Künstler Rudolf Koller sein Atelier hatte, folgendes: „Das Wäldchen ist übrigens aus Anlass der letzten Bachkorrektion schon bedeutend geschädigt worden und wird wohl bald ganz vom Erdboden verschwinden. Daher ist das Denkmal, das der Künstler dem vergänglichen Gewächse gestiftet hat, ebenso verdienstlich als rührend. Bäume wachsen immer wieder, aber immer weniger in den Himmel; denn wenn es im „Faust“ heisst: ‚Aber die Sonne duldet kein Weisses‘, kann man jetzt sagen: ‚Der Bauherr duldet kein Grünes.‘ Die gleiche Generation, die jetzt Bäume pflanzt, pflegt sie auch umzuschlagen, auszureissen und sorgfältig klein zu machen, ehe sie abzieht, gleich wie die Mietsleute Stuben und Küche ausfegen, wenn sie eine Wohnung verlassen.“
Keller, der Maler-Dichter hat stets in Bildern, in Gleichnissen, zu seinen Mitmenschen geredet. Der Baum war eines seiner wichtigsten Bilder; ja, ich möchte sagen, eines seiner wichtigsten Symbole. Immer wieder kommt dieses Symbol vor, in seiner Lyrik so gut wie in seiner Prosa. Der Baum war ihm, wie nichts anderes in der Natur, der Inbegriff von Leben. In seinem Gedicht „Lebendig begraben“ ist es der Baum, zuerst als Mast eines Schiffes, dann als Teil eines ganzen Waldes und schliesslich als Weihnachtsbaum, der den Dichter wieder auf die Erde zurückbringt und ihn schliesslich von Todesfurcht befreit.
Gilt diese Botschaft, die für uns Keller mit den Bildern von den Bäumen gibt, heute noch? – Ich bin überzeugt, dass sie, in einem viel weiteren Rahmen verstanden werden muss und heisst: „Trägt der Natur – den Schätzen der Erde – Sorge und lasst Euch nicht verleiten, weder aus Profitsucht noch aus Habgier, auf ihre Kosten zu leben. Denkt weiter, denkt an Eure Kinder und an die Kinder Eurer Kinder. Benützt die Natur und die Schätze unserer Erde in einer Weise, dass Ihr das Urteil Eurer Kinder und Kindeskinder nicht zu fürchten habt!“
Es gibt scheinbar Sachzwänge, oder sogenannte gute Gründe, meist wirtschaftlicher und politischer Art, mit denen man beweisen kann, warum der nicht erneuerbare Vorrat der Natur von uns mit grosser Behendigkeit verbraucht werden muss: Erhaltung der Vollbeschäftigung, Verhinderung der Arbeitslosigkeit, Erhaltung des Lebensstandardes, wirtschaftliche Stärke im Kräftespiel zwischen Ost und West oder wirtschaftliche Stärke als Vorbedingung für unsere Leistungen an die Dritte Welt; alles ehrbare, vernünftige Gründe.
Liebe Freunde, werden aber diese Gründe auch in den Augen unserer Enkel und Urenkel vernünftig sein? In den Augen jener, denen wir nicht nur unseren Wohlstand, unsere Zivilisation, sondern auch unsere gute, alte Erde als Lebensgrundlage zurücklassen müssen? Ist der hohe Lebensstandard nicht ein Danaergeschenk, wenn er auf einer Erde, die von ihren Gütern entblösst ist, gelebt werden muss? Wäre weniger nicht mehr? Lehrt uns die Geschichte nicht, dass politisch und wirtschaftlich starke Nationen auf kargem Boden gewachsen sind und nicht auf überdüngtem Land? Gottfried Keller hat mit seinem eigenen, in der Jugendzeit und bis zum Zenit seines Lebens kärglichen Leben bewiesen, dass Wohlstand und Befreiung von wirtschaftlicher Not nicht Vorbedingungen für eine reiche Lebensernte sind. Gottfried Keller ist nicht der einzige. Es gibt zahlreiche Beispiele, nicht zuletzt auch den anderen, etwas älteren Zürcher, Johann Heinrich Pestalozzi. Mit ihrem Leben und Werk sind Keller und Pestalozzi die Antithese zur Auffassung, dass wirtschaftlicher Wohlstand Voraussetzung für hohe kulturelle Leistung sei.
Wir kommen zum Anfang unserer Betrachtung zurück und damit auch zum Schluss. Was würde Gottfried Keller sagen, wenn er uns hier stehen sähe? Ihr habt es schon einmal gehört: Er würde uns heissen, seine Gleichnisse zu lesen und uns dabei etwas sagen zu lassen.
Von Bertold Brecht stammt folgender Grabspruch, der mit bestem Recht auch hier unter diesem Namen stehen könnte:
„Ich benötige keinen Grabstein, aber wenn ihr einen für mich benötigt, wünschte ich, es stünde darauf: Er hat Vorschläge gemacht. Wir haben sie angenommen. Durch eine solche Inschrift wären wir alle geehrt.“