Sechseläuten 1983
Herr Zunftmeister
Hochverehrte Gäste
Liebe Hottinger Zünfter
Uns Zünftern gibt Gottfried Keller ein echtes und nachahmenswertes Beispiel der Vaterlandsliebe, als feuriger und überzeugender Patriot hat er dazu beigetragen, uns schon in der Jugend die Zuneigung zur Heimat zu stärken, die unsterblichen Gestalten seiner Dichtkunst verkörpern echtes Schweizertum in all ihren facettenreichen Variationen.
Haben wir aber auch schon darüber nachgedacht, ob Gottfried Keller jenseits der Sprachgrenzen und der Grenzpfähle bekannt ist? Ob er Menschen anderer Nationalität oder anderer Zunge auch etwas bedeutet? Ist unser Nationaldichter den französisch und italienisch sprechenden Miteidgenossen bekannt? Strahlt sein Werk in das gesamte deutsche Sprachgebiet hinaus? Oder hat er gar einen internationalen Ruf?
Robert Faesi, seinerzeit Professor für moderne deutsche und schweizerische Literatur an der Universität Zürich, sagt über Gottfried Keller folgendes:
„Die Schweiz ist das Erdreich dieses tiefwurzelnden Baums. Das deutsche Sprach- und Kulturgebiet ist die Luft, aus der er seine geistige Nahrung saugte.“
Damit ist bereits gesagt, dass die Landesgrenzen für den Geist Gottfried Kellers keine Mauern waren, seine Wanderjahre haben ihn in deutsche Städte geführt. Er wurde – wie übrigens zahlreiche andere grosse Schweizer – von Deutschland und von deutschen Emigranten in der Schweiz „entdeckt“.
Aus der Dichterstube von Hottingen kommt ein Stück Bürgersinn, Bürgertugend und Freiheitswille, wie er sich im schweizerischen aber auch im deutschen Bürgertum zu seiner Zeit entfaltet hatte. Es sind vor allem zwei grosse Dichter, die unsere Vorstellungen von Demokratie und Freiheit im grossen deutschen Sprachraum bekannt gemacht haben: Der Sänger des „Wilhelm Tell“, Friedrich Schiller, und unser Gottfried Keller mit seinen Romanen und Novellen.
Aber seine Jugendzeit war geprägt von Enttäuschungen und Rückschlägen. Nachdem er die Ausbildung als Maler in München abgeschlossen hatte, kehrte er unbefriedigt über seine bisherige Laufbahn in die Schweiz zurück. Sein ErstlingsProsawerk, „Der grüne Heinrich“, ein autobiographischer Roman, fand zuerst nur wenig Beachtung in der Öffentlichkeit, und sein Verleger Eduard Vieweg jammerte, dass er kaum hundert Exemplare dieses später berühmt gewordenen Werkes verkaufen konnte.
Erst in Heidelberg und Berlin, wo er sich während sieben Jahren 1848 bis 1855 aufhielt, fand er Zugang zu einflussreichen Literaten, hier entwickelte sich das Keller‘sche Dichtergenie mit dem kurz nach der Heimkehr erschienenen ersten Band der „Leute von Seldwyla“. Wer waren nun die Persönlichkeiten, mit denen er Umgang hatte? Wer waren seine Bewunderer? Was faszinierte die ausländische Elite an unserem Nationaldichter?
In ihm erkannten sie in erster Linie einen „grossen Gesinnungsverwandten“. Der norddeutsche Dichter Theodor Storm las den „grünen Heinrich“ jedes Jahr einmal, der österreichische Erzähler Peter Rosegger sagte, Keller sei als Mensch und Dichter „voller Wahrheit“, und der zum münchner Literatenkreis gehörende Paul Heyse dichtete:
„Der Schönheit Blüt‘ und Tod, das tiefste Grauen umklingelst du mit leiser Torenschelle und darfst getrost, ein Shakespeare der Novelle, dein Herb und Süss zu mischen dir getrauen… So sehn wir staunend deine Wunderwelt, der Dichtung goldne Zeit scheint zu erwachen auf euren Ruf, unsterbliche Seldwyler.“
– Skizzenbuch, 1877
Georg Brandes übersetzte den „grünen Heinrich“ ins dänische, Ferdinand Freiligrath war von Keller begeistert. Mit den grossen Komponisten Richard Wagner und Johannes Brahms pflegte er einen intensiven Gedankenaustausch, der Historiker Heinrich von Treitschke und der Aphoristiker Peter Hille pflegten Korrepondenz mit ihm. Keller führte den berühmten Philosophen Friedrich Nietzsche in der Zürcher Museumsgesellschaft ein. Weitere Brieffreunde waren der Wiener Gelehrte Emil Kuh, der Österreicher Hugo von Hofmannsthal und der humoristische Dichter und Zeichner Wilhelm Busch. Es ist kurz gesagt die ganze europäische Geisteselite des vorgerückten 19. Jahrhunderts, mit der Gottfried Keller in Verbindung stand, die ihn zum Teil verehrte und bewunderte und zu der er selbst gehörte.
Zugegeben, es gibt nicht nur lobendes über Gottfried Keller zu berichten. Er hatte auch seine Kritiker und Neider, er war nicht immer redselig beim Wein und in Gesellschaft. Er galt als schrulliger Mann, man verargte ihm seine Brummigkeit. In vorgerücktem Alter war Gottfried Keller berühmt geworden: Neugierige Touristen begehrten ihn als „Sehenswürdigkeit Zürichs“ zu bestaunen. Gegenüber solchen Leuten war er kratzbürstig. Als ein ausländischer Bekannter den Dichter besuchen wollte, fragte er dessen Freund, den Maler Böcklin, und erhielt zur Antwort: „Das beste ist, Sie reden ihn gar nicht erst an“. Ein Berliner begrüsste ihn mit dem Kompliment: „Herr Keller, sie haben den ‚grünen Heinrich‘ ganz gewiss mit ihrem Herzblut geschrieben“. Und er erhielt die trockene Antwort: „Nein, nur mit Tinte“.
Ihm unsympathische Leute wusste er abzuwimmeln. Als eine österreichische Dame zu einer Bekannten sagte „Den muss ich sehen“, warnte diese „Der wirft sie sogleich die Stiege hinunter“. Die österreichische Grazie muss viel Charme gehabt haben, denn sie wurde nachträglich von Keller aufs Liebenswürdigste empfangen. Als sie am Schluss sagte, wie gerührt sie über seine Freundlichkeit sei, sie habe sich nämlich auf das Schrecklichste gefasst gemacht, da lachte er schalkhaft und meinte „nein, hören sie, wie komme ich denn zu diesem Ruf“.
Die stachelige Art Gottfried Kellers erklärt sich unter anderem auch aus seiner Abneigung gegenüber Plagiererei und Grossmannssucht. In seiner Bescheidenheit hasste er Lobhudeleien und die damals schon bestehende Neigung der Politiker, das Ausland nachzuahmen. Als drei grosse Weltausstellungen in Paris, London und Chicago stattfanden, glaubten unsere Behörden im Jahr 1887 wenigstens mit einer nationalen Landesausstellung Schritt zu halten. Auf dem Platzspitz in Zürich wurden eigene Bauten errichtet. Die Stadtväter baten Gottfried Keller, die Festkantate zu schreiben und die Eröffnungsansprache zu halten. In bissiger und angriffiger Weise nannte er die ganze Ausstellung ein „Höllenspektakel“, während er seine Kantate bescheiden als ein „Geschäftlein“ bezeichnete. Er rügte die Veranstalter, dass sie ausgerechnet wegen dieser Budenstadt einige ehrwürdige alte Bäume auf dem Platzspitz geopfert hatten. Ironisch bemerkte er hinterher: „Die Herren stiessen auf meine Grobheit dennoch tapfer an und schrien ‚hoch‘“. Und zu seiner Überraschung überreichte ihm das Zentralkomitee als Honorar einen goldenen Chronometer.
Als Gottfried Keller im Alter leidend wurde, ereignete es sich, dass er in der Nähe seiner Wohnung am Zeltweg stürzte und sich nicht mehr aus eigener Kraft erheben konnte. Einige Buben standen da und gafften. „He da, ihr Hoseschysser“, rief er, „hälfed mer uf“. Es war grob, aber herzhaft gemeint.