Rede am Grab 1985 (Dr. Max Steiner)

Sechseläuten 1985

Herr Zunftmeister
Liebe Freunde und Gäste

Uns ist das 20. Jahrhundert als Lebensabschnitt zugewiesen worden. Gottfried Keller hat sein wenig ausgewogenes, ja recht mühseliges Leben im 19. Jahrhundert gelebt: 1819-1890. Sein literarisches Werk hat sich vor hundert Jahren der Vollendung zugeneigt. Sein Jahrhundert war vergleichsweise zwar ein fortschrittgezeichnetes, aber doch traditionsgebundenes, aber auch noch romantisches Jahrhundert. Es hat viel Schönheit ausgestrahlt, hat vor allem grossartige Werke der Musik und der Literatur geschaffen. Dies, obwohl zersetzende Religions-Kontroversen und erste soziale Stürme zu überstehen waren.

Adolf Muschg spricht von demokratischer Bürgerlichkeit. Das Ausland sprach damals von einer jungen, lebenssicheren Nation. Aus der Wärme der Retorte sozialistisch-kommunistischen, überwiegend aber bürgerlichen Wirkens ist ein Vaterland entstanden.

Unser Jahrhundert demgegenüber scheint mir das Jahrhundert zu sein, das den Dammbruch erlebte – und noch erlebt: jenen Dammbruch, der uns von der Technik hat überschwemmen lassen.

Zwei Jahrhunderte; zwei Welten! Was für eine Diskrepanz beispielsweise zwischen dem Lebensstil von 1885 und 1985. Was für ein Unterschied auch zwischen der Rede Hedigers am Schützenfest in Aarau und der Rede des jungen Studentenvertreters anlässlich des diesjährigen ETH-Tages! Damals ein Leben ausserhalb des technischen Komforts, aber auch der begrenzten Freiheiten der Jugend. Damals auch die Dominanz der Gesellen-, Meister- und Herrenklasse, der Familie, des Freundeskreises und der Stadt. Heute nun aber der Ausbruch in alle Welt hinaus; die unbegrenzte Kommunikation über das Telefon und die Ton- und Lichtwellen. Tod des handgeschriebenen Briefes und des Gespräches der einzelnen Menschen. Damals aber auch noch die drückende Überarbeitslast in den unteren Gesellschaftsschichten. Heute nun der Weg zur Dreissigstundenwoche!

So bedeutend der Wechsel innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte war, die Kräfte des Geistes, der Persönlichkeit, teilweise der Moral und vor allem der Kunst haben alle Stürme überstanden. In diesen Bereich des 19. Jahrhunderts greifen wir unablässig zurück und finden Halt in dessen ethischen, vor allem musikalischen und literarischen Vermächtnissen. Und in diesem Bereich finden wir auch Gottfried Kellers Werke.

Das 19. Jahrhundert: In diesem Sinne Stützpunkt, Rückhalt und Hoffnung. Was ist denn aber, so besehen, dieses Werk Gottfried Kellers? Was ist seine Botschaft an uns – in unserer Zeit? Was lebt weiter, was überlebt?

Der Kern liegt in seiner prophetischen Aussage über die Bedeutung des Vaterlandes. Was für eine Wahrheit liegt in seiner Überzeugung, dass der Bürger in Erfolg und Not immer auf die Vertreter – die Behörde – dieses seines Vaterlandes zurückgreift. Wie sehr trifft es auch zu, dass er von seinem Land Sicherheit für sein Eigentum geradezu fordert. Wie selbstverständlich sind ihm Freiheit innerhalb der Gemeinschaft und die soziale Vorsorge. Und wie sehr will dieser Bürger sein Land in der internationalen Welt zukunftssicher und erfolgreich sehen.

Gottfried Keller hat sich zum Vaterland bekannt. Wir tun gut daran, seinem Beispiel zu folgen. Müssten wir ihm heute Bericht erstatten, könnten wir dies übrigens mit recht gutem Gewissen tun:

Vorerst wäre darauf hinzuweisen, dass in den Kontinenten dieser Erde rund 30 neue Vaterländer entstanden sind. Dies in den letzten 50 Jahren. In unserem eigenen Land sind jene Entscheide getroffen worden, die dafür sorgen, dass das Vaterland dem Bürger verbeibt und nicht überfremdet wird. Die Freiheit zu erhalten, ist aller Wille. Unser Schweizer Pass ist zu einem Passe-Partout im weltweiten Bereich geworden, der beweist, dass dieses Vaterland lebt – und Bedeutung hat. Keiner von uns wird seinen Stolz verbergen, wenn er in Tokyo, Hongkong oder San Francisco an einem Masten, auf einem Schiff oder am Heckruder eines Swissair-Flugzeuges unser Schweizerkreuz sieht. Im Ausland sind wir Schweizer Patrioten: Es lebt, das Vaterland der modernen Zeit!

Wir müssen Gottfried Keller dafür danken, dass er uns unseren Weg aufgezeigt hat; aber auch dafür, dass er dies in seiner eindringlichen Prosa tat:

„Grosse Städte, Nationen eifern lang‘ schon im Verein; aber wo wir Kleinen wohnen, darf die Müh‘ nicht kleiner sein.

Arbeit ist das wärmste Hemde, frischer Quell‘ im Wüstensand. Stab und Zelt in weiter Fremde und das beste Vaterland.

Und wisst: das Land ist eben recht, ist nicht zu gut und nicht zu schlecht. Ist nicht zu gross und nicht zu klein, um drin ein freier Mann zu sein.

So end‘ ich mit der Morgenhelle der Sommernacht beschränkte Ruh‘ und wandre rasch dem frischen Quelle der vaterländ‘schen Freuden zu.

Reich immer froh dem Morgen, oh Jugend Deine Hand. Die Alten mit den Sorgen lass‘ auch bestehn im Land.

So oft die Sonne aufersteht erneuert sich mein Hoffen und bleibet, bis sie untergeht, wie eine Blume offen.

Ich bin rot und habs erwogen, und behaupt‘ es unverweilt. Könnt‘ ich, würd‘ ich jeden köpfen, der nicht meine Meinung teilt.

(Hier zitiert Keller seine politischen Feinde)

Du Taugenichts, Du Tagedieb, und Deiner Eltern Schmach.

(Und hier das Problem der Erziehung)

Auf und lasst die Fahnen wehn, lustig ist das Leben.

Verschliesst des Kummers dunkle Gruft und stellet ein das Klagen. Lasst lieber uns die Maienluft mit seid‘nen Fahnen schlagen.“

Herr Zunftmeister, liebe Freunde, nur wer noch willens und in der Lage ist, zu empfinden, zu sagen

„0 mein Heimatland, 0 mein Vaterland, wie so innig feurig lieb ich Dich“

nur der darf für sich in Anspruch nehmen, zu erleben

„Trink o Auge, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluss der Welt!“

 

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