Rede am Grab 1987 (Dr. Bernhard Dubs)

Sechseläuten 1987

Aufräumen!

„Am Grab finden wir Zeit um nachzudenken und aufzuräumen. Der Dichter, der hier ruht, hat eine Losung ausgedacht, welche er dem Bannerträger Frymann in der Novelle „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“ auf die Fahne schrieb, nämlich: „Freundschaft in der Freiheit.“ Diese Worte haben wir als Parole übernommen. Sie besteht aus zwei Begriffen. Begriffe sind Merkworte von Vorstellungen. Liebe Freunde: Losungen, Parolen, Begriffe und Merkworte – alle miteinander samt Vorstellungen – können von den Zeitläufen verändert werden. Die vierzehnjährige Tochter versteht unter „Freiheit“ nicht dasselbe wie dreissig Jahre später als Mutter. Und der sowjetische Aussenminister Eduard Schewardnadse scheint bei „Freundschaft“ etwas anderes vorauszusetzen wie sein Amtsvorgänger Wjatscheslaw Molotow vierzig Jahre zuvor.

Zwei andere Begriffe werden von der Zeit auch verändert. Und über diese will ich jetzt mit Euch nachdenken und vielleicht da und dort beim „Aufräumen“ zu helfen versuchen. Sie heissen:

Liebe und Glück.

In meinem schönen Beruf erlebe ich es oft, wie Menschen reagieren, wenn sie vor Tatsachen stehen, welche ihre sehnlichsten Wünsche und Hoffnungen unvermittelt gefährden oder zunichte machen. Ich denke da an die Feststellung einer endgültigen Unfruchtbarkeit oder gar an die angemessene und heute fast stets unumgängliche Gegenüberstellung zu einem heimtückischen, fortgeschrittenen Krebsleiden. Die Enttäuschung und das Entsetzen, welches dann vielen Gesichtern und Reaktionen zu entnehmen ist, vergesse ich nicht. Viele unserer Mitmenschen lehnen in solchen Fällen ein Unglück, das nur sie betrifft, rundweg ab. Sie sagen: „Das kann nicht sein! Ich war doch stets so tüchtig, so erfolgreich! Da hat doch jemand die Ursache zur rechten Zeit übersehen!“ Oder: „Schliesslich kennt man doch jetzt den defekten Dichtungsring, welcher die Challenger zur Explosion und zum Absturz brachte. Warum stellt man das Unglück bei mir zu spät fest?“ Und manche der Betroffenen wissen auch gleich, wen die Verantwortung trifft. Der Unglückliche selbst ist es jedenfalls nie . Manche meinen: „Das Glück erarbeiten wir. Wir kaufen es mit Geld. Wir haben Anspruch darauf.“ Wir sind Macher geworden. Wir machen unser Glück, auch wenn es zum Nachteil anderer geht. Ich denke an Regierungen, welche meinen, den Zins für ausgeliehene Gelder nicht bezahlen zu müssen. Und wie haben wir es denn mit dem Mitleid zu den Unglücklichen? „Kein Problem“ sagen nicht wenige: „Für das Unglück gibt‘s Schuldige“. Und wenn sich die nicht finden lassen, haben wir noch die Versicherungen, Garantiearbeiten und Postcheckkonten, über welche man den Unglücklichen – mit entsprechendem Steuerabzug – Geld schicken kann. Der Schutzengel ist eben zum Requisit überholter Anschauung verkommen.

Die menschliche Gewohnheit, Ursachen zu suchen, hat uns erzogen, geprägt und über das Tier erhoben. Sie brachte uns die Wissenschaft, den Fortschritt und mit ihm Erleichterungen. Sie hat uns verwöhnt. Ganz ähnlich wie bei Glück und Unglück verhält es sich mit dem zweiten Begriff der Liebe.

Viele Menschen „machen“ Liebe. Sie konsumieren „Liebe“ und gehen dann zum Arzt oder zum Anwalt, wenn ihr vermeintlicher Anspruch zu kurz gekommen ist. Diese Einstellung zu Liebe und Glück hat vielen Menschen eine Überschätzung der eigenen Kraft, die Überheblichkeit, eingebracht. Ihr sind wir alle ausgesetzt, ob wir nun als Handlanger, Ehepartner oder Politiker durchs Leben ziehen. Wie schön wäre es, wenn wir hie und da sagen würden: „Das weiss ich nicht“ oder: „Das wollen wir dem Herrgott überlassen“, ohne uns gleich dem Verdacht mangelhafter Ausbildung auszusetzen? Wie hat doch Theodor Fontane den Ritterschaftsrat Von Briest in solchen Situationen zu seiner Frau sagen lassen: „Ach Luise,…..das ist ein zu weites Feld!“

Liebe Freunde, Was macht uns denn wahrhaft glücklich? Ist es die Messbarkeit von Liebe und Glück oder ist es das Gehör für die Sprache eines zutiefst empfundenen und nicht weiter hinterfragbaren Gefühls? Es gibt Dinge, die wir nicht machen können, sie müssen eben erfühlt, empfunden sein. In der wunderschönen Bassarie sagt Sarastro in Mozarts Zauberflöte zum Unglück und zur Liebe: „Und ist ein Mensch gefallen, führt Liebe ihn zur Pflicht“. Und schliesslich: „Wen solche Lehren nicht erfreuen, verdienet nicht ein Mensch zu sein“.

Freunde, wir sollten diese Dinge gelegentlich bedenken, uns und unsere Kinder wachrütteln. Ich wünschte, wir würden mit zunehmenden Lebensjahren nicht müde, darüber nachzudenken.

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