Sechseläuten 1989
Gottfried Keller, am 19. Juli vor fast 170 Jahren in Zürich geboren, vor beinahe 100 Jahren am 15. Juli 1890 gestorben, ist in Literaturgeschichten im Kapitel „Realismus“ zu finden.
Die Werke Gottfried Kellers beschreiben eine Zeit, die für uns schwierig vorzustellen ist: Kein Radio, kein elektrisches Licht, keine asphaltierten Strassen, keine Autos. Aber auch sehr wenig soziale Sicherheit, keine AHV, ungünstige oder keine Arbeitsverträge für die Arbeitnehmer. Vergleichen wir diese Zeit mit der heutigen, unsrigen, so bemerken wir sofort, dass die Unterschiede enorm sind. Haben sich die Menschen in diesen hundert Jahren auch geändert? Hat uns das Werk Gottfried Kellers heute persönlich noch etwas zu sagen? Lesen wir seine Werke aus rein historischem Interesse ungefähr im gleichen Stil, wie wir am Fernsehen Filmberichte über die Fauna in tropischen Meeren oder über das Leben in Entwicklungsländern betrachten? Sind die Charaktere der Menschen Kellers für uns noch nachvollziehbar? Erkennen wir uns allenfalls sogar noch selbst in ihnen?
Als ich vom Zunftmeister den Auftrag erhielt, heute einige Gedanken zum Leben und Werk Gottfried Kellers zu äussern, habe ich als erstes „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“ gelesen. Und ich kann Ihnen, verehrte Anwesende, gestehen, dass ich mich mit der Figur des Zimmermeisters Daniel Frymann sofort identifizieren konnte. Es handelt sich um den Mann, der sich zuerst weigerte, für das Fähnlein die beschlossene und erwünschte Rede zu halten. „Ich bin ein schlichter Zimmermann und werde mich niemals dem Gespött aussetzen!“, dann durch Losentscheid doch dazu gezwungen wurde, schliesslich sich aber im letzten Moment, schon auf dem Festplatz in Aarau, doch noch der Verpflichtung entziehen will: „Punktum! Ich tu‘s nicht! Ich bin ein alter Mann und will mir nicht für den Rest meiner Jahre den Makel der Torheit und einen Übernamen aufpfeffern lassen!“
Hier schuf also Gottfried Keller eine Figur, die für mich, am 17. April 1989, genau so aktuell ist, wie sie damals vor bald 150 Jahren war. Es gibt aber in diesem „Fähnlein der sieben Aufrechten“ noch andere eindrückliche Abschnitte. Da ist zum Beispiel die Rede von einem Buchbinder:
„Er arbeitete seit geraumer Zeit keinen Streich mehr und lebte aus den in die Höhe geschraubten Mietzinsen alter Häuser… Manchmal verkaufte er sie wieder an einen Gimpel zu übertriebenem Preise… Auch hatte er‘s im Griff, durch leichte bauliche Veränderungen die Wohnungen um ein Kämmerlein oder kleines Stübchen zu vergrössern und abermals eine bedeutende Zinserhöhung eintreten zu lassen… Wenn ihm gar nichts anderes mehr einfiel, so liess er eines seiner alten Gebäude auswendig neu anweissen und erhöhte abermals die Miete. Dergestalt erfreute er sich einer hübschen jährlichen Einnahme, ohne eine Stunde wirklicher Arbeit.“
Gottfried Keller hält uns aber auch einen Spiegel vor, wenn er beschreibt, wie jeder der sieben Aufrechten als Ehrengabe für das Schützenfest einen alten Ladenhüter aus seinem Haushalt vorschlägt, bis sie schliesslich die Unehrenhaftigkeit ihres Tuns bemerken. Auch die Art und Weise, wie der junge Karl Hediger den unerwünschten Nebenbuhler Ruckstuhl in der Kaserne ausser Gefecht setzt, könnte sich heute noch in irgend einer Rekrutenschule oder bei einer WK- Truppe abgespielt haben.
Es hat sich erstaunlich wenig geändert seit der Zeit, die Gottfried Keller beschrieb. Zwar sind die äussern Umstände anders geworden, die Menschen aber, mit ihren Wünschen, Schwächen und Stärken sind geblieben. Es zeugt von der Kraft Gottfried Kellers, dass uns seine Gestalten heute noch so lebendig vorkommen.
Wenn der Name Gottfried Keller fällt, so denken wir unwillkürlich an seine Zeit als Staatsschreiber des Kanton Zürich, an seinen Erfolg als Dichter, an seine Kameradschaft mit dem Architekten Gottfried Semper, mit dem Musiker Wilhelm Baumgartner, mit den Literaturgelehrten Jakob Bächtold und Adolf Frey, mit den Malern Rudolf Koller und Arnold Böcklin, mit denen er gerne ein Glas Wein – allenfall auch etwas mehr – trank. Wir vergessen dabei gerne, dass sein Leben alles andere als einfach war.
Zu seiner Kindheit: Sein Vater starb, als er fünf Jahre alt war. Seine Mutter erzog ihre beiden Kinder, Gottfried und seine Schwester Regula, allein und mit grösster Sparsamkeit.
Zu seinen Jugendjahren: 1833 trat Gottfried Keller in die neu gegründete Kantonsschule ein, 1834 wurde er wegen Beteiligung an einem Demonstrationszug von der Schule gewiesen. Gottfried Keller betrachtete seine Jugendjahre mit grosser Bitternis als verlorene und vergeudete Zeit.
Zu seinen Lehr- und Wanderjahren: Zuerst wollte er Kunstmaler, später Dramatiker werden. Finanziell ging es ihm lange miserabel. 1840-42 verbrachte er in München, 1848 war er in Heidelberg, 1850-55 in Berlin. Ein geregeltes Leben führte er erst nach seiner Wahl zum Staatsschreiber des Kanton Zürich. Diese Wahl erfolgte erst 1861, also zu einer Zeit, in der er bereits über 40 Jahre alt war. Es liessen sich zweifellos Parallelen ziehen zwischen dem Leben Gottfried Kellers und der heutigen jungen Generation, die oft auch Mühe hat, die uns richtig scheinenden Ziele zu finden. Es wäre zweifellos interessant, hier weitere Untersuchungen anzustellen, doch will ich es bei diesen wenigen Bemerkungen bewenden lassen.
Wer von Ihnen hat in den letzten zwei Jahren Gottfried Keller gelesen? Wahrscheinlich die wenigsten. Im nächsten Jahr wird man seinen hundertsten Todestag feiern. Es würde sich lohnen, auf dieses Jubiläumsjahr hin wieder einmal eine Gottfried Keller – Ausgabe zur Hand zu nehmen. Nicht etwa nur, weil Gottfried Keller dies verdient hätte, sondern vor allem, weil Sie alle mit Sicherheit für sich mindestens soviel Gewinn daraus ziehen würden wie aus einer Tages-Anzeiger- oder Blick-Lektüre. Sie würden feststellen können, wie aktuell seine Gestalten auch heute noch sind.
Zum Schluss noch einige Zitate aus dem „Fähnlein der sieben Aufrechten“. Der junge Karl Hediger sagt in seiner Rede am eidgenössischen Schützenfest über die Männer des Fähnleins: „In beiden Fällen, in der Stunde der Gefahr und in der Stunde der Freude, sind sie dann plötzlich zufrieden mit den Anfangsworten unserer Bundesverfassung: Im Namen Gottes des Allmächtigen! und eine so sanftmütige Duldsamkeit beseelt sie dann, so widerhaarig sie sonst sind, dass sie nicht einmal fragen, ob der katholische oder der reformierte Herr der Heerscharen gemeint sei!“ „Zwar sind sie in ihrer Jugend auch gereist und haben vieler Herren Länder gesehen, nicht voll Hochmut, sondern jedes Land ehrend, in dem sie rechte Leute fanden; doch ihr Wahrspruch blieb immer: Achte jedes Mannes Vaterland, aber das deinige liebe!“ Zum Publikum sagt der junge Karl: „Welche Schlauköpfe und welche Mondkälber laufen da nicht herum, welches Edelgewächs und welch Unkraut blüht da lustig durcheinander, und alles ist gut und herrlich und ans Herz gewachsen; denn es ist im Vaterlande!“ Und schliesslich sagt der Schneidermeister Hediger zu seinem Sohn Karl, und das beziehe ich nun auch wieder auf mich: „Studiere die Menschen nicht, um sie zu überlisten und auszubeuten, sondern um das Gute in ihnen aufzuwecken und in Bewegung zu setzen, und glaube mir: viele, die dir zuhören, werden oft besser und klüger sein als du, der da spricht.“