Sechseläuten 1991
Hochgeachteter Herr Zunftmeister
Wohlweiser Herr Ehrenzunftmeister
Hochgeachtete Herren Altzunftmeister
Hochgeschätzter Herr Ehrenzünfter
Liebe Mitzünfter, Zunftgesellen und Gäste
Zu unserem traditionellen Besuch am Grab von Gottfried Keller darf ich Sie alle ganz herzlich begrüssen. Wenn wir uns heute, 101 Jahre nach Gottfried Kellers Tod beziehungsweise 172 Jahre nach seiner Geburt, hier versammeln, so sehen wir diese Grabstätte nicht nur als Ort des Verlustes und der Trauer, sondern auch – und vor allem – als Ort des Gedenkens, des Andenkens, des Weiterlebens. Wir sind nicht hierher gekommen, um jemanden zu bestatten, sondern um einen grossen Zürcher wieder „zum Leben zu erwecken“, um einen Menschen wieder aufleben zu lassen, der unserem Land sowie uns allen etwas zu sagen hatte und etwas gegeben hat.
Gottfried Keller lebt weiter im Geiste all jener, welche sich an ihn erinnern, welche seine Texte lesen, welche sich für das interessieren, was er sagen wollte. Unsere Besinnung an seinem Grab soll von dieser Frage ausgehen: Was hatte er zu sagen, was wollte er mitteilen, was hat er heute noch, uns Heutigen noch, zu vermitteln? Gottfried Keller sprach durch sein literarisches Werk, durch das geschriebene Wort. Davon wollen wir uns hier, bei diesen paar Gedanken, inspirieren lassen.
Ich nehme Gottfried Kellers letzten Roman, „Martin Salander“ (publiziert im Jahre 1886), zum Ausgangspunkt. Erlauben Sie mir, mit einer kurzen Zusammenfassung der im Buch dargestellten konkreten „Geschichte“ zu beginnen: Der mit Marie verheiratete Martin Salander bürgt – gutmütig und wohlmeinend, wie er ist – für seinen eher schillernden Freund Wohlwend; auf diese Weise verliert er sein Hab und Gut und bringt sich sowie seine Familie in den materiellen Ruin; daraufhin geht er nach Brasilien, wo es ihm gelingt, den erlittenen Verlust mit florierenden Handelsgeschäften wettzumachen; freudig kommt er zurück, mit einer Bankgutschrift im Gepäck, welche der Familie Salander nun eine ruhige, bürgerliche Existenz sichern sollte; doch es zeigt sich, dass der Bankwechsel nicht eingelöst werden kann, dass obskure Bankinstitute die Hand im Spiel haben und dass einmal mehr der windige und betrügerische Wohlwend mit perfiden Schlichen in den Besitz von Martin Salanders wohlverdientem Geld gelangen konnte; der solcherart geschädigte Martin Salander fährt daraufhin erneut nach Brasilien, und die zweite Rückkehr in die Heimatstadt und zu seiner Familie ist definitiv; Martin ist nun ein reicher, geachteter Mann, schliesslich wird er auch Grossrat.
Seine beiden Töchter Netti und Setti heiraten Julian und Isidor Weidelich, zwei Zwillingsbrüder, welche nur an den persönlichen Profit denken und welche – als hohle Streber ohne Substanz – sogar die Parteizugehörigkeit untereinander „auswürfeln“, als habe diese nichts mit Überzeugung, dafür umso mehr mit opportunistischem Kalkül und mit nihilistischer Machtgier zu tun. Sowohl Julian als auch Isidor werden Notare, machen betrügerischen Bankrott und wandern ins Zuchthaus; die Ehen werden geschieden, beide Salander-Töchter kehren ins Elternhaus zurück. Schliesslich kommt auch der Sohn Arnold, als Dr. iur. und passionierter Freund der Geschichte, nach mehreren, auswärts verbrachten Studien- und Wanderjahren, in die Vaterstadt zurück; er tritt in die familieneigene Firma ein und baut deren Erfolg weiter aus.
Im Roman „Martin Salander“ erzählt Gottfried Keller die Geschichte einer Familie, welche ihr Leben (mit allen selbstverschuldeten oder unvermeidlichen Schlägen) zu bewältigen und zu meistern versucht. Im Prozess dieser zuweilen beschwerlichen, manchmal aber auch schönen und beschwingenden Lebensbewältigung wird die Familie Salander – und mit ihr der Leser des Romans – um viele Einsichten reicher.
Um diese Einsichten geht es jetzt. Sie lassen sich nur verkürzt und exemplarisch wiedergeben. Ich möchte sie anhand von ein paar ausgewählten Zitaten illustrieren. Alle diese Textauszüge drehen sich um Arnold sowie um das Urteil, das der Vater über seinen Sohn fällt.
Arnold hat die Welt bereist, er weiss aus eigener Anschauung, wie es „draussen“, in anderen Ländern, aussieht. Als Sohn von Martin Salander hat er der schmerzlichen Erfahrung der Familie nicht entgehen können; nur zu konkret hat er am eigenen Leibe spüren müssen, dass auch im Heimatland nicht alles in Ordnung ist. Der Vergleich zwischen der Eidgenossenschaft und fremden Staaten ist unausweichlich, er drängt sich Arnold, dem Weitgereisten, geradezu auf. Die Schlussfolgerung, die er aus der Gegenüberstellung zieht, ist weder zersetzend noch zynisch, sie ist im Gegenteil beruhigend und tröstlich:
„Ich glaube‘, sagte er, ‚es würde vieles erträglicher werden, wenn man weniger selbstzufrieden wäre bei uns und die Vaterlandsliebe nicht immer mit der Selbstbewunderung verwechselte: Ich habe, obgleich noch jung, ein ziemliches Stück von der Welt gesehen und das Sprichwort: ‚C‘est partout comme chez nous‘ würdigen gelernt. Wenn wir nun etwa in ein schlechtes Fahrwasser geraten, so müssen wir eben hinauszukommen suchen und uns inzwischen mit der Umkehrung jenes Wortes trösten: Es ist bei uns, wie überall!“
Man kann und soll das eigene Land auch dann lieben, wenn man sieht und zugeben muss, dass es unvollkommen oder unfertig ist. Auch die Ungerechtigkeiten, welche man zuweilen erleidet und welche sich nicht immer vermeiden lassen, auch die Ungereimtheiten des Alltags und des politischen Lebens gehören zur Heimat, genau so, wie sie zu jedem Staat und zu jeder Gegend der Welt gehören. Nicht radikale, aus Enttäuschung genährte Ablehnung, nicht Hass „auf das Bestehende“ und Verbitterung sind die richtige Antwort, sondern der schlichte Entschluss, konstruktiv auf das Ganze einzuwirken. Bescheiden und in der Stille, ohne Geschrei und ohne viel Aufhebens, sollen sich jene vorbereiten, welche etwas besser machen möchten. So formuliert Arnold, als er im Ausland mit einem Freund über die Schweiz diskutiert, das Rezept einer pragmatischen, unspektakulären, dafür effizienten „Kurskorrektur durch Mitbeteiligung“:
„(…) wir dachten von dem Gesichtspunkte des Alten aus mehr über die politischen Tagesläufe nach, die wir aus der Heimat vernahmen. Kurz, wir gelangten endlich zum Entschlusse, im Gegensatze zu den Schulbankagitatoren, uns nicht als neue Generation aufzutun, sondern uns im stillen für alle Fälle brauchbar zu machen in Zeiten, wo es notwendig werden könnte, mit einzustehen und den Rank finden zu helfen. Am Allgemeinen mitzudenken, sei immer nötig, mitzuschwatzen aber nicht.“
Wesentlich ist nicht der Lärm, den man verursacht, wesentlich ist nur das Resultat. Auf das, was wir bewirken, sollten wir achten, und wir sollten uns einzig von der Frage leiten lassen, ob unsere Taten der Sache dienen, um die es geht. So treten Profilierungssucht, Streben nach Eigennutz und fanatisches Agitatorentum von selbst in den Hintergrund. Und so wird der Blick frei für das Gemeinwohl, für die Bedürfnisse und die Rechte der andern, für die echten Herausforderungen der Zukunft. Menschen, gerade auch junge Menschen, welche in diesem Geiste handeln wollen, geben zu Hoffnung Anlass. Es erstaunt denn nicht, dass Arnold und dessen gleichgesinnte Freunde den Vater beeindrucken, ja mit Bewunderung erfüllen:
„Die haben, dachte er, nicht die Fähigkeit, auf einer Idee zu beharren; sie scheinen doch keine politische Ader zu besitzen: Aber eh er den Verdacht besser ausspinnen konnte, bewegte sich die Unterhaltung auf weiten freien Bahnen; keiner tat sich als Lehrer oder Prophet hervor, und Phrasen wurden noch weniger laut; man sah nur, dass es männliche Jünglinge seien, die sich die Welt offen behielten und nicht in einen Tabaksbeutel stecken liessen. Martin hatte einige Mühe, neuen und neuesten Anregungen auf den Pfaden des allgemeinen Bildungszustandes zu folgen; denn er war in manchen Dingen ein wenig viel zurückgeblieben und musste sich mehr als einmal Aufschluss erbitten, der ihm ohne Wohlweisheit und ganz ohne Aufheben erteilt wurde, als selbstverständlich, wie man einem sagt, was draussen für Wetter sei. Und durch alles ging ein Hauch unverdorbener Ehrlichkeit, die ihm das Herz erfrischte.“
Fassen wir die „Lektionen“ dieser paar Zitate zusammen: Skandale und Ungereimtheiten gibt es überall, also auch bei uns. Nötig sind nicht die Fanatiker, nicht die „Propheten“ mit fixen Ideen, sondern jene, welche sich wirklich nützlich erweisen wollen, welche denken und mitdenken, ohne es auf persönlichen Profit oder auf „Show“ abgesehen zu haben. Falsch sind Selbstzufriedenheit und Selbstbewunderung, richtig sind Bescheidenheit und Echtheit.
Gottfried Kellers Botschaft ist klar und unmissverständlich. Gutgesinnte, tatkräftige Menschen der beschriebenen Art werden nicht nur die Fehlentwicklungen der Gegenwart korrigieren, sondern auch die Probleme der Zukunft meistern können. Und eine junge Generation, welche wie Arnold (also unprätentiös und von konstruktivem Bürgersinn erfüllt) an die der Gemeinschaft gestellten Aufgaben herantritt – eine solche junge Generation ist ein Garant für eine glückliche Zukunft: „Sie sind keine Streber, möchte ich beschwören, und wissen dennoch, was sie wollen, obgleich oder weil sie nicht davon schwatzen: Glaub nur, wenn es viele junge Mannschaft der Art gibt, so ist mir vor unserer Zukunft nicht bang!“
„So ist mir vor unserer Zukunft nicht bang“ – damit ist die Idee der Zukunft gegeben, die Idee des Werdens, des Geburtstages, nicht des Grabes, die Idee des Frühlings, nicht des Todes. In diesem Perspektivenwechsel können wir heute und jetzt auch an den 700. Geburtstag der Eidgenossenschaft (sowie an die Zukunft dieses Landes) denken. Und wir dürfen uns vor Augen halten, dass das Zürcher Sechseläuten ein Frühlingsfest ist, und dass der Frühling als die Zeit des Wachsens, des Sich-Öffnens, der Hoffnung verstanden wird.
In diesem Sinne schliesse ich mit dem Zuruf der Zürcher Zünfter, mit dem Ruf aller Zürcherinnen und Zürcher zum heutigen Tag: „E schööns Sächsilüüte!“