Rede am Grab 1995 (Herbert Hediger)

Sechseläuten 1995

Hochgeehrter Herr Zunftmeister
Werte Ehrengäste und Gäste 
Verehrte Herren Altzunftmeister 
Verehrte Herren Ehrenzünfter
Liebe Hottinger-Zünfter und Zunftgesellen

Gottfried Keller ist unter allen Schweizer Dichtern der grösste Künstler und ein grosser Staatsmann. Mögen andere ihm an lebenswahrer Menschendarstellung gleichkommen, mag ein Gotthelf gelegentlich aus urtümlicheren Tiefen schöpfen, an bunter Phantasie und reiner Schönheit stehen die Werke Gottfried Kellers unübertroffen da.

Wenn wir uns an Kellers weltfroher Heiterkeit, an seiner tiefen Weisheit und seinen sprudelnden Einfällen erfreuen, so ahnen wir kaum, wie schwer er mit sich selber und einem widrigen Geschick hat ringen müssen, bis er zu solcher Meisterschaft gelangte. Der Lebensweg führte ihn lange in die Irre, bevor er das Gebiet fand, wo er sein Bestes leisten konnte: Das Reich der Dichtung. Der angeborene Trieb, Schönes zu schaffen, ein nimmermüdes Gewissen und der Sinn für echtes und gesundes Menschentum liessen ihn aber schliesslich alle inneren und äusseren Hindernisse überwinden.

„Ich bin ein Mensch aus dem Volk“ konnte Keller mit Recht von sich sagen. Er wurzelte im städtischen Kleinbürgertum, schöpfte aber auch die Kraft aus dem bodenständigen Bauerntum.

In dem damals noch wenig umfangreichen Zürich – es zählte etwa zwölftausend Einwohner und war bis 1833 noch von Mauern umgeben – wohnten die Menschen nahe beisammen. Kein anderer Dichter ist mit Zürich so eng verbunden wie Gottfried Keller. Als Bürger von Glattfelden am 19. Juli 1819 geboren, war Keller mehr als die Hälfte seines Lebens in dieser Stadt zuhause: Im Goldenen Winkel am Neumarkt, wo er seine Jugendzeit von 1821 bis 1848 verlebte. Im Steinhaus an der Kirchgasse, in dem sich über den Amtsräumen auch die Dienstwohnung des Staatsschreibers Keller befand, wo er mit seiner Mutter und Schwester zusammen wohnte. Im Haus Thaleck am Zeltweg, wo er bis zuletzt wohnte, zwar nicht gerne, weil es dort lärmig war.

„Ein Mitbewohner des Hauses Thaleck, es war der Sekundarlehrer Eduard Gubler, steuerte einst lange nach Mitternacht heimzu. Da entdeckte er Keller, der sich, etwas vor sich hinbrummelnd, erfolglos an der Haustüre zu schaffen machte. Gubler, der in solchen Situationen des Dichters aufbrausende Art kanne, sprach besänftigend auf ihn ein: Es sei bei der vorherrschenden Dunkelheit wohl etwas schwierig, sich zurecht zu finden … Nein, nein schimpfte Keller, die Häuser sind heute so schlecht gebaut, dass man nicht einmal das Schlüsselloch findet.“

Die Eltern waren beide aus Glattfelden gebürtig. Die Mutter, Elisabeth Scheuchzer, war die Tochter eines Arztes, der, aus stadtzürcherischem Geschlecht stammend, sich dort niedergelassen hatte. Sein Sohn, Gottfried Kellers Onkel, war wie sein Vater als Arzt in Glattfelden tätig. Die Beziehung Kellers zu den Verwandten in dem schmucken, nahe der Rheingrenze gelegenem Dorfe waren sehr rege, und der junge Gottfried weilte oft wochenlang im Hause des Onkels. Seine Vertrautheit mit bäuerlichem Wesen, mit ländlicher Arbeit und Sitte geht auf diese Besuche zurück.

Das innige Verhältnis zur Natur, die zeitlebens Kellers Trösterin war, fand hier Nahrung und Vertiefung. Der Leser des “Grünen Heinrich“ fühlt sich in dieser Landschaft an manche Szene des Romans erinnert, ist aber vielleicht doch erstaunt, die Wirklichkeit so ganz anders zu finden, als er sie sich nach der Lektüre des Buches vorgestellt hat. Es wird ihm recht eindrücklich, wie die gestaltende Phantasie aus scheinbar unbedeutenden Erlebnissen und Beobachtungen ein wundersames Gebilde schaffen kann, wie gewaltig ein Dichter das, was er mit den Sinnen und der Seele aufgenommen hat, zu verdichten, zu steigern, zu vertiefen und zu versüssen weiss. „Nur die Ruhe in der Bewegung hält die Welt und macht den Mann; die Welt ist innerlich ruhig und still, und so muss es auch der Mann sein, der sie verstehen und als ein wirklicher Teil von ihr sie widerspiegeln will. Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verscheucht es; Gott hält sich mäuschenstill, darum bewegt sich die Welt um ihn.“
Der grüne Heinrich

Die kleinbürgerlichen Kreise der Geburtsstadt und das heimatliche Bauerndorf bilden den Lebensraum, in dem der Knabe Keller zum Jüngling heranwuchs. Ein Unstern stand über der Jugend Kellers. Fünfjährig verlor er seinen Vater und blieb deshalb in den entscheidenden Jahren seiner Entwicklung ohne zielbewusste und kräftige Erziehung. Die tapfere Mutter sorgte zwar nach besten Kräften für ihren Gottfried und seine um drei Jahre jüngere Schwester Regula, aber es fehlte ihr doch die straffe Hand, die der Sohn so nötig gehabt hätte. Verhängnisvoll war dann die Ausstossung aus der Schule, die wegen einer kleinen Schülerrevolte gegen einen missliebigen Lehrer erfolgte, wobei Keller als Sündenbock herhalten musste. Damit war der Bildungsgang des Fünfzehnjährigen jäh abgebrochen, und Keller war nun auf die „verfluchte Autodidakterei“ angewiesen. Begreiflicherweise war er sein ganzen Leben hindurch auf die Lehrer nicht gut zu sprechen. „Es geht nichts über einen Schulmeister, wenn er in seinem Safte steht“, brummte er einmal unwillig. Trotzdem aber bedeutete ihm wahre Bildung ein sehr hohes Ziel. Im hohen Alter noch riet Keller einem jungen Manne, der Dichter werden wollte, er solle zuerst seine Gymnasialbildung gründlich vollenden und lernen und wieder lernen; alles, „was die Welt zu lernen heischt und gibt“. In jungen Jahren beginnt er, ein Tagebuch zu führen, denn ohne ein solches sei ein Mann „was ein Weib ohne Spiegel“. Darin ermahnt er sich selber mit den vielsagenden Worten „Studiere dich selbst“.

„Wenn man am gescheitesten zu sein glaubt, so kommt man am ehesten als ein Esel zum Vorschein!“ 
Der grüne Heinrich

Das Tagebuch des Dichters bezeugt, wie ernst er die Selbsterziehung nahm, wie schwer ihn oft die Prüfung seines Ichs niederbeugte, und wie qualvoll der Kampf gegen seine eigenen Schwächen war. Stunden tiefster Niedergeschlagenheit, ja völliger Verzweiflung an sich selber erleben wir mit ihm. „Ich bin die unnütze Zierpflanze, die geruchlose Tulpe, welche alle Säfte dieses Häufleins Erde, das Leben von Mutter und Schwester aufsaugt“, wirft er sich vor. Später darf er jedoch erleichtert von sich sagen: „Ich habe mich zu einem bewussten und besonnenen Menschen herangebildet“. Er ist erfreut, „eine Menge Eitelkeiten und Oberflächlichkeiten“ abgelegt zu haben, und als er im sechsten Jahrzehnt seines Lebens sein Staatsamt abgibt, seufzt er befriedigt auf: „Erzogen bin ich nun endlich auch, so dass ich wohl wieder in die Freiheit hinaustreten darf“.

Keller verstand es, zu warten, innerlich reifen zu lassen. Er sann und spann manchmal jahrelang an dem Faden seiner Geschichten, ehe er etwas niederschrieb, und so wurde aus ihnen das prächtige Gewebe, bei dem von der Mühsal des Handwerks nichts sichtbar ist. Es ist bezeichnend, dass er eine Zeitlang ein Traumbuch führte, und welche Rolle Träume in seiner Dichtung spielen, das offenbart sich in den Heimweh-Kapiteln des „Grünen Heinrich“ besonders deutlich. „Wer dichten will, muss träumen, spintisieren und faulenzen können“ sagte Keller, er war ein Meister in diesen unbürgerlichen Tugenden.

Dass er mit seiner Malkunst zu keinem befriedigenden Ende gelangte, hat übrigens seinen tieferen Grund. Sicher fühlte er, dass er trotz seiner unzweifelhaften Begabung für Landschaftsmalerei seinen ganzen Schatz an Gedanken, Menschenkenntnis und originellen Einfällen nicht in dieses begrenzte Gebiet der bildenden Kunst bannen konnte. Wie sehr Keller auch ausgesprochener Augenmensch war, die Darstellung des inneren Menschen war ihm doch viel wichtiger als die Wiedergabe reiner Natureindrücke. Keller nahm leidenschaftlichen Anteil an den politischen Bewegungen jener aufgeregten Jahre vor und während des Sonderbundskrieges. Zürich war damals ein Mittelpunkt politischen Treibens. Bedeutende liberal gesinnte Männer waren vor den reaktionären Regierungen aus Deutschland hierher geflohen; Sozialisten, Kommunisten, freiheitsdurstige Schriftsteller entwickelten eine emsige Tätigkeit. Keller, durch und durch liberal gesinnt und für die freiheitlichen Ideen begeistert, fand Aufnahme in solchen Kreisen.

So war aus dem Maler der Dichter geworden. Die äussere und innere Entwicklung war jedoch lange nicht abgeschlossen, ja bei einem Menschen von der geistigen Lebendigkeit und Spannkraft Kellers kann wohl überhaupt nie von einer fertigen Entwicklung die Rede sein. Keller hat sich immer die Beweglichkeit und ehrliche Freiheit bewahrt, seine Anschauungen zu ändern. In diesem Sinne schrieb er einmal:

„Übrigens geht der Mensch in die Schule alle Tage, und keiner vermag mit Sicherheit vorauszusagen, was er am Abend seines Lebens glauben werde.“
Der grüne Heinrich

Weshalb eigentlich der „grüne“ Heinrich? Die einen sagen, Keller verweise mit dem Wort „grün“ leicht ironisch auf den unreifen, aber nicht hoffnungslosen Zustand seines jungen Helden. Keller selbst hat im „grünen Heinrich“ eine banale Erklärung gegeben:

„Die Kleidung, welche ich damals erhielt, war grün, da meine Mutter aus den Uniformstücken des Vaters eine Tracht für mich schneidern liess, für den Sonntag einen Anzug und für die Werktage einen. Auch fast alle nachgelassenen bürgerlichen Gewänder waren von grüner Farbe; bis zu meinem zwölften Jahre aber reichte der Nachlass zur Herstellung von grünen Jacken und Röcklein aus bei der grossen Strenge und Aufmerksamkeit der Mutter für Schonung und Reinhaltung der Kleider, so dass ich von der unveränderlichen Farbe schon früh den Namen ‚grüner Heinrich‘ erhielt und in unserer Stadt trug“.

Der Aufenthalt in Berlin brachte Keller nicht weniger Bitternisse und Entbehrungen als der in München.

„Es ist doch manchmal gut, wenn man nicht so fix und flink ein grosses Tier wird, sondern etwas langsam wächst, wie das Hartholz, das desto länger brennt.“ 
An die Mutter, 15.2.1855

Als er 1855 nach langer Abwesenheit seine Schritte wieder der Vaterstadt zuwandte, war er zwar noch immer arm, doch durfte er sich als Sieger nach hartem Ringen fühlen. Entscheidende Wendungen waren bei ihm eingetreten. Seine Weltanschauung hatte sich geklärt und gefestigt, vor allem aber lag sein grösstes Werk, „Der grüne Heinrich“, 1854/1855 in erster Fassung erschienen, der Öffentlichkeit vor. In Zürich war er jetzt ein angesehener Mann, dessen Umgang die hervorragendsten Köpfe, besonders Künstler und Gelehrte, suchten und fanden. Unter ihnen waren der Architekt Gottfried Semper, der Erbauer des Polytechnikums, Friedrich Theodor Vischer, der Ästhetiker und Verfasser des Romans „Auch einer“, Richard Wagner und der Tiermaler Rudolf Koller. Auch mit auswärtigen Freunden stand er in Verbindung, z.B. mit dem Dichter Paul Heyse und später mit Theodor Storm.

Keller schätzte sich als Dichter ein. Er kannte seine aussergewöhnliche Sprachmächtigkeit und zollte ihr den schuldigen Tribut: Daher gehören auch seine geistvollen Briefe zum Werk. Das Wort war die Brücke, über die er mit der Welt verkehrte und auf seine Korrespondenten zuging. Sein Stil war der Charakter. Das für sich und andere schreibende Ich pendelte zwischen Selbstüberhebung und Selbsterniedrigung hin und her. Ungern trat er in der Öffentlichkeit auf und machte es kurz, wenn es doch sein muss. Nur im engen überschaubaren Kreis von Gleichgesinnten glänzte er auf und entfaltete sich, spintisierte, fingierte und fabulierte in spontaner Lust am Sprachspiel. Erst wenn man ihm näher trat und er auftaute, was besonders im traulichen Zwiegespräch bei einem Glase Wein geschah, überraschte und fesselte er durch die Originalität seines Geistes und durch einen liebenswürdigen, zuweilen schalkhaften Humor, den man am wenigsten unter dem knorrigen Äusseren gesucht hätte. Mit diesen Vorzügen verband er eine ideale Lebensanschauung, die ehrenwerteste Gesinnung, ein seltenes Zartgefühl und eifrige Gerechtigkeitsliebe.

„Gott weiss wohl, welche Leute bescheiden sind und welche nicht, und er zwickt die letzteren gelegentlich ein wenig, ohne dass die wissen woher es kommt, und ich habe ihn im Verdacht, dass das ihm alsdann einen kleinen Spass macht.“
Der grüne Heinrich

Eine unerwartete Wendung in Kellers Leben trat ein, als er 1861 zum ersten Staatsschreiber des Kantons Zürich gewählt wurde. Der Regierungsrat wählte ihn mit einem Stimmenverhältnis 5:3, wobei Alfred Escher ihn besonders zum „Staatsschreiber“ unterstützte. Keller unterzog sich dem öffentlichen Staatsdienst in der Überzeugung, „dass der Poet und Schriftsteller dabei nicht verloren gehe, sondern im Gegenteil dadurch einen festeren Halt im Leben gewinne“, wie er dem Verleger Georg von Cotta am 25. September 1861 erklärt hatte. Mit der unverhofften Wahl fand er zwar keinen erfüllenden Beruf, doch immerhin seine erste Anstellung und ein festes Auskommen für die nächsten Jahre (es wurden fünfzehn, und er tätigte in dieser Zeit 250‘000 Unterschriften in seinem Amt), womit er endlich, 42-jährig, Mutter und Schwester der Sorge um ihn entheben konnte. Äusserlich war sein Leben das eines pflichtbewussten Beamten, und an den Poeten erinnerten höchstens die Rosen, die auf seinem Schreibtisch standen und die in dem kleinen Gärtchen hinter dem Hause blühten, und die Katzen, für die Keller stets grosse Liebe hegte und die sich auf den amtlichen Papieren und Büchern nach belieben breit machen durften. In diesem wirklich originellen Menschen wohnte eine reiche Seele und eine durchdringende Intelligenz. Keller war im Tiefsten gütig, bescheiden und vor allem grundehrlich. Es gibt wohl nicht oft Menschen, die ein solches Wahrheitsbedürfnis besitzen wie er, ja man kann sagen, die Liebe zu allem Echten und Aufrichtigem und der Hass gegen alles Verlogene und Unsaubere waren geradezu der Urgrund seines Charakters. In Keller war eben ein ausgeprägtes Gefühl der Verpflichtung gegenüber den Mitbürgern wach. Darum empfand er es auch als so erbärmlich, wenn die Stimmberechtigten ihre demokratischen Rechte nur lässig ausübten. Als wahrer Freund seiner Mitbürger kannte er aber auch die Pflicht, Mängel und Übelstände im staatlichen Leben ohne Scheu aufzudecken. Keller beobachtete seine Mitmenschen mit scharfen Augen, und namentlich als Staatsschreiber hatte er Gelegenheit, tiefe Einblicke in private Verhältnisse zu tun.

„Studiere die Menschen nicht, um sie zu überlisten oder auszubeuten, sondern um das Gute in ihnen aufzuwecken.“ 
Das Fähnlein der sieben Aufrechten

Häufig genug sah er, wie der Hang nach Geld das Verlangen nach geistigem Gut weit überwog, stellte er doch einmal beim Vermögensinventar eines reichen Geschäftsmannes fest, dass darin „neben einem Silbergeschirr von 4000 Franken Wert für 56 Franken Bücher figurierten“. Keller besass den freien Sinn und die genügende Distanz, um seine Landsleute überlegen beurteilen zu können. Er hatte schliesslich gegen zehn Jahre seines Lebens im Ausland verbracht und damit tüchtig über seine Grenzpfähle hinausgeschaut.

„Achte jedes Mannes Vaterland, aber das deinige liebe!“
Das Fähnlein der sieben Aufrechten

Der beschränkte Patriot sagte ihm ebensowenig zu wie der einseitige Weltbürger, der in seinem Herzen kein bestimmtes Vaterland trägt. Was die politische Richtung betrifft, so war Keller grundsätzlich ein Mann des liberalen Fortschritts, in der Jugend ein stürmischer Draufgänger – er nahm sogar an Freischarenzügen teil -, später gemässigter, aber nie ein Reaktionär, der seine früheren Anschauungen verleugnet hätte. Er setzte sich ein gegen die Ausnützung der Kinder im Fabrikbetrieb, verlangte rasche Hilfeleistung beim Brand von Glarus, unterstützte die flüchtigen Polen und freute sich über die Gleichberechtigung der Juden, von denen er einmal schreibt, dass „auf jeden vorlauten und schreienden Juden zwei dergleichen Christen“ zu rechnen seien. Eine Gefahr für die Schweizer sah Keller in ihrer Selbstzufriedenheit. Zwar war er stolz auf den hohen Standard ihrer politischen Bildung, warnte aber eindringlich davor, Vaterlandsliebe mit Selbstbewunderung zu verwechseln. Alle „hyperpatriotische und überschweizerische philiströse Ruhmrednerei und Duselei“ war Keller zuwider. Trotz diesen kritischen Bemerkungen stand Keller ganz zur Schweiz und ihren staatlichen Einrichtungen.

Er wusste, dass er noch viel zu geben hatte, und sein künstlerischer Gestaltungsdrang war so stark, dass er schliesslich das Amt 1876 niederlegte, um sich ungeteilt wieder der Poesie widmen zu können. Die allgemeinen Verhältnisse in der Schweiz hatten sich nicht durchwegs im Sinne Kellers entwickelt. So freudig er einst die neue Bundesverfassung begrüsste und so entschieden er sich für den Liberalismus eingesetzt hatte, als die wirtschaftliche Freizügigkeit immer mehr zu einem schrankenlosen Ausbeuter- und Spekulantentum wurde und in der sogenannten Gründerzeit ein wilder Tanz ums goldene Kalb begann und dabei die Moral immer zweifelhafter wurde, so blickte er mit Besorgnis in die Zukunft seines Landes und fühlte sich gedrungen, in seiner Weise die Mitbürger zu ehrlichem und bescheidenem Verhalten zu ermahnen. Stolz und zukunftsfroh war das Bild, das Keller im „Fähnlein der sieben Aufrechten“ von seinem Vaterland entworfen hatte. Im „Salander“ überwogen nun Kritik und ernste Bedenken. Bei seinem fünfzigsten Geburtstag verlieh ihm die Universität Zürich den Titel eines Ehrendoktors. Der siebzigste Geburtstag brachte ihm sogar ein Glückwunschschreiben des Bundesrates. Die Stadt Zürich verlieh ihm das Bürgerrecht am 28. April 1878. Durch sein öffentliches Testament vom 11. Januar 1890 hatte der Dichter den Hochschulfonds des Kantons Zürich zum Universalerben eingesetzt. Aus den Urheberrechten an seinen Werken war der Universität Zürich bis zum Erlöschen der Schutzfrist 1920 der Ertrag von Fr. 340‘000 zugeflossen. Seit 1933 erinnert eine Gedenktafel vor der Aula an diese Donation.

Wer so inbrünstig wie er die Schönheit der Welt besingt und Ehrfurcht vor dem Grossen und Unfassbaren zeigt, der ist im Innersten erfüllt von der Ahnung des Göttlichen. Das Wichtige und Besondere seiner Erkenntnis lag darin, dass für ihn der Tod wirklich das Ende, ein völliges Erlöschen des Lebens und der Seele bedeutete. Es gehörte zu Kellers unerschütterlichen Wahrheitsliebe und Folgerichtigkeit im Denken, den Tod in dieser ganz unerbittlichen Grösse und Macht zu sehen. Der schwächere Mensch sträubt sich, bewusst oder unbewusst, gegen die Vorstellung, dereinst in keiner Weise mehr vorhanden zu sein. Die herbe Auffassung Kellers zieht weite Folgen nach sich. Das Diesseits bekommt eine andere, eine gesteigerte Bedeutung. Wieviel haushälterischer gilt es, mit der Spanne irdischen Daseins, die einem vergönnt ist, umzugehen! Wieviel gründlicher und stärker muss die Auseinandersetzung mit dem Leben sein! Und wieviel ernster und schwerer ist in sittlicher Beziehung die Verantwortung, die der Mensch nun für all sein Tun völlig allein zu tragen hat!

Wie bei jedem echten Künstler ist bei Keller Mensch und Werk eines. Was als Hauptzüge in Kellers Menschentum hervorgehoben worden ist, all das tritt uns in seinen Dichtungen entgegen: sein tiefes Gemüt, seine Liebe zur Wahrheit, zur Heimat, zur Natur, sein Humor, seine Religion.

„Bei Gott ist alles möglich, auch dass er existiert.“
Der grüne Heinrich

Umfassen Kellers Schriften auch nicht viele Bände, so ist ihr innerer Reichtum um so erstaunlicher. Die schöpferische Phantasie des Dichters ist derart gross, dass man den Ausspruch, den einer seiner Freunde tat, sehr wohl begreift: Er könne nicht fassen, dass ein Mensch all das aus seinem Kopfe heraus zu erfinden vermöge. Das hervorstechenste Merkmal in Kellers persönlichem Charakter, seine Liebe zur Wahrheit und sein Abscheu vor allem Unredlichen, ist zu einer Reihe der Erzählungen geradezu der Schlüssel. Das Thema Sein und Schein taucht fast überall in irgendeiner Gestalt auf. Der Hang zu erzieherischem Wirken, den Keller mit vielen Schweizer Dichtern teilt, ist deutlich erkennbar, obschon er bei ihm nie so unvermittelt hervortrat wie beispielsweise bei Gotthelf, der seine Leser gar kräftig ins Gebet zu nehmen pflegte. Die erzieherische Seele beruhte meist darin, dass der Lebenslauf eines Menschen erzählt wurde, der in beispielhafter Weise eine Wandlung durchmachte, der von klugen Erziehern oder vom Schicksal geläutert, gestärkt, emporgezogen wird. Das herrlichste Beispiel bietet der „Grüne Heinrich“, der in seiner ganzen Anlage das Muster eines Erziehungsromanes ist und in einzelnen Kapiteln, zumal in der Kindheitsgeschichte, eine Menge feiner pädagogischer Erkenntnisse und trefflicher Beobachtung des kindlichen Seelenlebens enthält. Auch im „Fähnlein der sieben Aufrechten“ tritt eine pädagogische Frage in den Vordergrund: Der Widerstreit zwischen Vater und Sohn. Hier ist es der Vater, der erzogen und zur Einsicht gebracht wird, dass der von ihm immer etwas tyrannisch und geringschätzig behandelte Sohn in am Ende an Tüchtigkeit übertrifft.

„Keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt!“
Das Fähnlein der sieben Aufrechten

Gescheites und Wahres haben vor und nach Gottfried Keller viele Menschen gesagt, aber so beglückend Schönes zu schaffen, wie er es vollbrachte, das gelingt nur wenigen Lieblingen des Schicksals.

Im „Thaleck“ starb Gottfried Keller kurz vor seinem einundsiebzigsten Geburtstag am 15. Juli 1890. In der Sterbestunde weilte der Maler Arnold Böcklin, der im Alter sein bester Freund geworden war, in seiner Nähe. Nach der Feuerbestattung wurde Kellers Asche in der Urnenhalle des Krematoriums beigesetzt, bis sie am 8. August 1901 in den Sockel seines Grabmals übergeführt werden konnte. Das rosafarbene Marmormonument ist auf Kosten der Erben (Winkelriedstiftung und Hochschulfonds) mit einem Staatsbeitrag der Zürcher Regierung nach einem Entwurf des Architekturprofessors Alfred Friedrich Bluntschli (1842-1930) errichtet worden; Kellers Name und Lebensdaten sind die einzige Beschriftung. Das naturalistische, lebensgrosse Porträt von Richard Kissling (1848-1919) erscheint nach der von ihm abgenommenen Totenmaske christusähnlich idealisiert. 1912 wurden die sterblichen Überreste von Kellers Mutter, Elisabeth Keller-Scheuchzer (1787-1864), 1919 jene der Schwester, Regula Keller (1822-1888), in das Grab des Dichters gegeben. Ihnen beiden gilt die Gedenktafel von 1950, auf dem Bild unter dem Kranz, den die Gottfried Keller-Gesellschaft am 19. Juli 1994 zum 175. Geburtstag des Dichters niedergelegt hat.

„Ich hoffe noch den ein‘ und anderen, der jetzt ein wichtiges Gesicht macht und mich für einen Schlufi hält, der zu nichts kommt, zu überdauern. Freilich fällt es mir schwer aufs Herz, wenn ich denke, dass Du und Regula zugleich darunter leiden und dass Euch beide darüber die Jahre vergehen. Allein ich kann meine Natur nicht ändern, und wenn ich einst mir einige Ehre erwerbe, so habt Ihr den grössten Anteil daran durch Euere stille Geduld.“
Aus Berlin an die Mutter, 12. Juni 1852

Was Gottfried Keller von der heutigen Zeit hielte?

Der „Salander“ lässt nichts Gutes vermuten. Die Zeit leidet unter dem Verlust des Masses. Die Natur ist nicht mehr das Geheiligte, sie ist das Verschmutzte, Verschleuderte, Missbrauchte. Das Zusammenleben der Menschen scheint nicht durch Zartheit und Scham bestimmt, sondern durch Aggressivität und Gleichgültigkeit. Efficiency statt Umsicht, Job statt Arbeit, Überproduktion und massloser Konsum statt Achtung vor den Gütern, mit wenig Arbeit viel Geld bekommen (Spekulation) – Keller hätte seine Mühe mit dieser Zeit. Es wäre ihr zu Wünschen, dass sie auch mit ihm Mühe hätte, sich um ihn Mühe gäbe. Es ist kein nostalgischer Seufzer. Es täte ganz einfach not.

„Es wird eine Zeit kommen, wo in unserem Lande, wie anderwärts, sich grosse Massen Geldes zusammenhängen, ohne auf tüchtige Weise erarbeitet und erspart worden zu sein; dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch.“
Das Fähnlein der sieben Aufrechten

Die Zunft Hottingen fühlt sich seit ihrer Gründung 1897 mit dem Dichter besonders verbunden.

Freundschaft in der Freiheit

Sie liess im Februar 1899 am Zeltweg 27 über dem Hauseingang eine Gedenktafel anbringen, für die sie gemäss Grundbucheintrag „für alle Zeiten“ unterhaltspflichtig ist. Damit ehrt sie das Wesen und Wirken des Dichters und Staatsschreibers, den Verfasser der uns liebgewordenen Werke: Das Fähnlein der Sieben Aufrechten, Der grüne Heinrich, Die Leute von Seldwyla, Zürcher Novellen, Martin Salander. Die auf Initiative von Hottinger Zünftern realisierte Ausstellung ab dem Jahre 1995 ist dank grosszügiger Unterstützung der Schweizerischen Kreditanstalt zustande gekommen. Sie schliesst, wenigstens für einige Zeit, eine empfindliche Lücke, die durch die ersatzlose Aufhebung der bisherigen Gedenkzimmer im Rathaus entstanden ist, und demonstriert die lebendige Präsenz und gelebte Anerkennung des Dichters und Staatsschreibers an seinem Wirkungsort Zürich. Die Ausstellung veranschaulicht Gottfried Kellers Lebensgang und geistige Persönlichkeit, sein Wirken als Staatsschreiber des Kantons Zürich und das Werk des Dichters, der zu den bedeutendsten Repräsentanten der deutschsprachigen Literatur im 19. Jahrhundert gehört.

Gottfried Keller verlangt: Ehrliches Verhalten und moralische Verantwortung. – Tun auch wir das!

Ich danke meinen Freunden und Gästen.
Herbert Hediger

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