Rede am Grab 1997 (Hansjürg Diener)

Sechseläuten 1997

„Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluss der Welt!“

Sehr verehrte Frau Stadträtin 
Liebe Hottinger Zünfter und Gäste

Diese Worte kommen mir spontan in den Sinn, wenn sich irgend etwas besonders Schönes oder Erfreuliches vor meinen Augen auftut. Es sind für mich die schönsten Worte, die Gottfried Keller geschrieben hat.

Vom Trinken hat der Staatsschreiber und Dichter Keller allerhand verstanden. Das ist allgemein bekannt. Wenn er hier die Augen zum Trinken auffordert, dann muss das aus seinem tiefsten Herzen kommen. Und nicht nur etwas nippen sollen sie am goldenen Überfluss der Welt, nein, kräftig trinken sollen sie, „trinken, was die Wimper hält“! Ein wunderschönes Bild voll Lebensfreude und Lebenslust! Das Gute und Schöne sollen uns erfreuen, uns aber auch die nötige Kraft dazu geben, um das Schwierige dieser Welt besser ertragen zu können. Eine tiefe Menschenfreundlichkeit kommt in diesen wenigen Worten wunderbar zum Ausdruck. „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluss der Welt!“ ist der Schluss aus Gotffried Kellers berühmtem „Abendlied“. Es ist im Jahre 1879 entstanden. Gottfried Keller war knapp 60-jährig, und sein Staatsschreiberamt hatte er bereits abgelegt. Im selben Jahre stellte er dieses Gedicht auch der Öffentlichkeit vor. Theodor Storm beglückwünschte seinen Zürcher Freund begeistert. Es sei „das reinste Gold der Lyrik“, schrieb er, und weiter hat Storm bemerkt, dass „auch für die Besten solche Perlen nur sehr selten“ seien. Das Gedicht als ganzes ist gar nicht fröhlich. Es handelt vom eigenen Tod. Bevor es so weit sei, möge sich der Mensch noch mit voller Kraft freuen. „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält!“ würde Gottfried Keller uns bestimmt gerade jetzt, so prächtig herausgeputzt wie wir sind, zum Anfang unseres grossen Jubeltages zurufen. Als Hottinger Zünfter fühlen wir uns mit dem grossen Zürcher Dichter besonders verbunden. Schon unsere Kinder erleben durch den Auftritt der wackeren Männer des „Fähnleins der sieben Aufrechten“ am Sechseläuten ein eindrückliches Gottfried-Keller-Bild. Alle zwei Jahre wollen wir mit unserem Besuch an seinem so zürcherisch bescheidenen Grab unsere Bewunderung und Verehrung zum Ausdruck bringen.

Liebe Mitzünfter! Viel Zeit habe ich bekommen, um mich für diesen Auftritt vorzubereiten. Wenn der Hottinger Zunftmeister in einer derartigen Angelegenheit auf jemanden zukommt, ist man ja nicht frei, mit ja oder nein zu antworten. Es handelt sichvielmehr um eine Ehre, aber auch um einen klaren Auftrag. Punkt. Wahrscheinlich machte ich ziemlich grosse Augen, ist doch meine literarische Kompetenz eher schwach entwickelt. Väterlich, wie zum Trösten, gab mir unser weiser Meister darauf einen Tip: „Weisch, mach öppis Persönlichs, säg eifach, was Dir dä Göpf Chäller bedütet!“ Was meine Sache natürlich nicht einfacher machte. Ich versuchte also, in mich hinein zu horchen. Am Besten kann man das zu Pferd, ist man doch als Reiter einen guten Meter näher beim Herrgott. Dazu kommt, dass einen ein kräftiges und sensibles Geschöpf rhythmisch und fast schwebend durch die Natur trägt. Das Herz öffnet sich, und man kann wunderbar in sich hineinhören. So haben sich bei mir beim Denken an Gottfried Keller schliesslich drei Stichworte herauskristallisiert: „Heimat“, „Zürich“ und „Heile Welt“. Natürlich wollte ich meine Aufgabe auch als Chance nutzen, das Leben des berühmten Zürchers, sein Werk und seine Zeit besser zu verstehen und mein etwas simples Gottfried-Keller-Bild von „Heimat“, „Zürich“ und „heile Welt“ zu hinterfragen.

Ich fange mit dem Stichwort „heile Welt“ an: Wie viele strahlend schöne Bilder breitet der Dichter in seinen Geschichten und Gedichten vor uns aus! Wunderbare Naturbeschreibungen und bis ins Detail liebevoll gezeichnete Landschaften. Immer wieder braucht er eigene Sprachschöpfungen, um das auszudrücken, was er empfand. Er schreibt zum Beispiel vom „Frühlingsland“, oder er lässt jemand „in die Sonntagsfrühe“ hinausschauen. Der ehemalige Kunstmaler findet in der Sprache das Ausdrucksmittel, das ihm wirklich zusagt. Der Eindruck einer heilen Welt übermitteln auch seine farbigen Beschreibungen von festlichen Veranstaltungen, von Hochzeiten, Schiffahrten, besonders aber auch von währschaften vaterländischen Sänger-, Turn- und Schützenfesten, beispielsweise eben in Aarau mit unseren sieben Aufrechten. Schliesslich liegt in seiner Sprache viel Kindliches. Häufig braucht er die Verkleinerungsform. Er schreibt vom Herzkämmerlein, von einem kleinen Wohlständchen, einem Kunstreischen, oder, ganz liebevoll, vom Pankrätzchen. Er freute sich am Einfachen, am Echten. Schein und Heuchelei waren ihm ein Greuel. Wie stand es aber um seine eigene Welt? War sie tatsächlich eine heile Welt? Bis er so schreiben konnte, machte er einen langen und harten Leidensweg durch. Über viele Jahre litt er unter geistiger und materieller Not. Seine Misserfolge als Malerkünstler plagten ihn ebenso wie ein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Mutter und der Schwester, die sich für ihn aufopferten. Ein Satz aus einem Brief an die Mutter, der hier auf der Grabplatte eingemeisselt ist, bringt das zum Ausdruck: „Wenn ich einst mir einige Ehre erwerbe, so habt Ihr den grössten Anteil daran durch Euere stille Geduld“. In seinem Hauptwerk, dem „grünen Heinrich“, schreibt er von einem verhunzten Bildungsgang. Aus der Schule wurde er hinausgeworfen, und mit Gott wollte er nichts zu tun haben. Er fühlte sich als Aussenseiter, und er stand zu dieser Aussenseiterrolle. Sie machte ihn denn auch zum Künstler. Gottfried Keller brauchte viel Zeit zu seiner Entfaltung, seine eigenen Probleme hat er dabei bewältigt. Dieser Reifungsprozess und alte, schöne Erinnerungen aus Glattfelden machten es ihm möglich, später so viel Heiles und Schönes zu beschreiben.

Die meisten unserer Biographien, meine eigene eingeschlossen, verlaufen gerade umgekehrt: In einer heilen Welt aufgewachsen, werden wir jetzt von grundlegenden Strukturveränderungen geschüttelt. Das Neue als Chance annehmen, statt einer heilen Welt nachträumen, muss unsere Devise sein. Und wenn wir uns im Innersten trotzdem ein Stück heile Welt mit Gutem und Schönem bewahren wollen, so müssen wir im Sinne Gottfried Kellers so oft wie möglich mit offenen Sinnen und wachen Augen trinken.

Gottfried Keller sei ein brummliger und eigensinniger Mensch gewesen, mit einem zürcherisch-trockenem Humor, ein geselliger, festfroher Volksfreund, ein grüblerischer Einzelgänger, gelegentlich auch ein Hagestolz. Es erstaunt daher nicht, dass zahlreiche Anekdoten über ihn im Umlauf sind. Hier ein Müsterchen aus einer Sammlung, die im Jahre 1914 in Leipzig herauskam. Unter dem Titel „Eine Randbemerkung“ wird berichtet:

Als Staatsschreiber des Kantons Zürich hatte Keller täglich einen ordentlichen Stoss Mitteilungen von Gemeindevorstehern durchzusehen und zu begutachten, um sie hernach dem Regierungsrat vorzulegen. Einst fand er einen Klagebrief eines Gemeindepräsidenten vor, der mit einem widerborstigen und hartnäckigem Bauern schon lange im Streit lag und nicht wusste, wie er sich der herausfordernden Unverschämtheiten und Grobheiten seines Gegners erwehren sollte. In dem Brief stand folgende Stelle: „Zum Schluss erklärte mir der Mann, ich könne ihm am Hintern lecken. Was soll ich nun tun, Herr Staatsschreiber?“ Ohne mit der Wimper zu zucken, schrieb Keller an den Rand des Briefes: „Ich würde es nicht tun“.

Mein zweites Stichwort: „Heimat“: Heimat kommt mir in den Sinn, weil Gottfried Keller unsere Welt beschreibt. Seine Landschaften und Figuren sind uns vertraut. In Seldwyla treffen wir viel Zürcherisches, Gewohntes, auch Füdlibürgertum an. Die Seldwyler sind wir selber. Darum rühren und treffen uns seine Figuren besonders. Die Reise nach Glattfelden machte der grüne Heinrich zu Fuss. Die Eisenbahn war ja noch nicht erfunden. Das Wandern in der freien Natur gehörte damals eben zum Leben. Gottfried Kellers Naturbeschreibungen, zahlreiche Abend-, Morgen- und Mittagsstimmungen, seine Empfindungen über das natürliche Licht sind wunderbar und vermitteln ein starkes Heimatgefühl. Das Wort Heimat wirkt heute antiquiert, oft wird es auch missbraucht. Das Schlagwort Globalisierung ist Trumpf. Aus wirtschaftlichen Überlegungen suchen wir überall nach mehr Raum und nach neuen Möglichkeiten. Trotzdem beziehungsweise erst recht ist es für uns Heutige wichtig zu wissen, woher wir kommen, wo unsere Wurzeln gründen. Wir brauchen eine Identifikation. Heimat ist dort, wo es einem wohl ist, wo man hingehört. Heimat hat mit Glücklichsein zu tun. Heimatliche Gefühle lässt Gottfried Keller ganz besonders für uns Hottinger aufkommen. In verschiedenen Lebensphasen hatte er eine Adresse in Hottingen, das damals noch eine selbständige Gemeinde im Vorfeld der Stadt war. Zuletzt, 1882 bis zu seinem Tode im Jahre 1890, wohnte er im Thaleck, am Zeltweg. Bestimmt haben sich die Wege von Gottfried Keller und von verschiedenen früheren Hottinger Zünfter gekreuzt. Bei uns wäre es mein Urgrossvater Carl Caspar Diener gewesen. Er war 31 Jahre alt und betrieb am Römerhof in dritter Generation ein Baugeschäft, als der 63-jährige Keller vom Bürgli aus der Enge ins Thaleck zügelte. Drei Jahre nach Kellers Tod wurde Hottingen eingemeindet. Die Hottinger Bürger, darunter auch meine Familie, wurden bei diesem Akt Stadtbürger. Nach weiteren vier Jahren, eben auf den Tag vor exakt 100 Jahren, wurde dann unsere Zunft gegründet. Gottfried Keller vermittelt ein gutes, solides Heimatgefühl, und für mich ist er selber ein Stück Heimat.

Mein drittes Stichwort: „Zürich“: Gottfried Keller war mit Zürich stark verbunden. Den grössten Teil seines Lebens verbrachte er hier. Während seiner Lebenszeit hat sich unsere Stadt enorm gewandelt: Als Gottfried Keller im Jahre 1819 zur Welt kam, im gleichen Jahre übrigens wie sein gewaltiger Zeitgenosse Alfred Escher, war Zürich eine mittelalterliche Stadt. Die Stadtbefestigung samt Toren und Mauern aus dem 16. Jahrhundert prägten das Stadtbild. Zürich hatte damals keine besondere Bedeutung. Und die Schweiz war – das wird oft vergessen – ein armes Land. Der Wiener Kongress machte 1815 einen Schlussstrich unter die Napoleonische Epoche. Das Zeitalter des Liberalismus brach an, und in der Region Zürich verbreitete sich eine optimistische Grundhaltung, also genau das, was uns heute so bitter fehlt.

Im Jahre 1833 beschloss der Kantonsrat nach einer heftigen Debatte den Abbruch der Stadtmauern. Anstelle des Fröschengrabens entstand 1864 die Bahnhofstrasse. Und erst 1865 wurde in Zürich die letzte Hinrichtung, und zwar die eines Mörders – Heiri Götti hiess er – abgehalten. Die sogenannte grosse Bauperiode brach an. Es herrschte Aufbruchstimmung. Enorme technische, materielle, politische und gesellschaftliche Chancen taten sich auf. Der Wirtschaftsliberalismus brachte dem Tüchtigen riesige Möglichkeiten. Der Schwache anderseits war den Entwicklungen schutzlos ausgeliefert. Wie kein zweiter weckte der grosse Alfred Escher die materiellen Geister, wurde von ihnen aber schliesslich erdrückt. Sein Zeitgenosse Gotffried Keller war wie ein Symbol des Ausgleichs für die Seele, die bei dem rasanten Tempo zu kurz kam. Die Lebenszeit Gottfried Kellers war spannend und für die Entwicklung von Zürich von grosser Bedeutung. Sie war so etwas wie der Übergang vom Mittelalter in unsere Tage. Es scheint, als seien jene Grundlagen, die heute ins Wanken geraten sind, nicht zuletzt das Streben nach materiellen Errungenschaften, damals in kurzer Zeit entstanden.

Sehnsucht nach einer heilen Welt, Liebe zur Heimat und Verbundenheit mit Zürich: Das bedeutet für mich Gottfried Keller. Wir wollen uns vor unserem grossen Mitbürger verneigen. Viele von seinen Gedanken sind zeitlos aktuell. Wir würden gut daran tun, mehr auf ihn zu hören, zum Wohl unserer Gemeinschaft und von uns selber. Jetzt wollen wir in den strahlenden Frühlingstag hinausgehen und uns an unserem Hottinger Jubeltag herzlich freuen. Lassen wir uns von Gottfried Kellers tiefer Menschenfreundlichkeit anstecken, wenn er uns zuruft:

„Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluss der Welt!“

 

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