Sechseläuten 1999
Liebe Hottingerzöifter, liebe Gäste
Alle zwei Jahre, am Morgen des Sechseläutens, treffen wir Hottinger uns am Grab von Gottfried Keller, um seiner zu gedenken. Es ist ein schöner Brauch, diesen Festtag mit einigen besinnlichen Worten zu beginnen.
Vor ungefähr 45 Jahren liess die Vorsteherschaft zum ersten Mal einen Kranz durch unseren Blumenhändler ins Sihlfeld bringen – so wie es die Schmiedenzunft in den Zwischenjahren noch heute praktiziert. Unsere verstorbenen Zunftmeister Carl Diener und Heinrich Wipf, die bestimmenden Zünfter der damaligen Zeit, haben, anlässlich der erstmaligen Kostümierung der Vorsteherschaft am Sechseläuten-Morgen, spontan einen Besuch des Grabes beschlossen. Ich, damals blutjunger Vorsteher, musste sofort zwei Grosstaxis besorgen und bald standen wir stumm an dieser Stelle. Zwei Jahre später sind wir zusammen mit dem Fähnlein der sieben Aufrechten mit wehendem Banner vorgefahren – die Fahnestange musste ich im Taxi von innen festhalten – es war kein Platz im Auto. Zunftmeister Wipf hielt eine kleine Rede, und der Fähnrich entbot den Bannergruss. In den folgenden Jahren begleiteten uns mehr und mehr Zünfter. Auch heute sind wir wieder ein stattlicher Harst, und mir fällt die grosse Ehre zu, einige Gedanken äussern zu dürfen. Was haben wir damals als junge Zünfter von diesem Brauch gehalten? Wir, gemäss eigener Einschätzung fortschrittlich und modern, sind mit Begeisterung hinter unserem ellenlangen Banner mit dem magersüchtigen Kleeblatt marschiert. Am liebsten hätten wir Japaner und Amerikaner als Zünfter aufgenommen.„Göpf Keller“, wie wir burschikos sagten, haben wir als Schulbuchdichter betrachtet und das Ganze als Folklore abgetan.
In welchem Lichte sieht man Gottfried Keller heute?
Im Herbst vergangenen Jahres ist nach der Frankfurter Buchmesse ein Interview mit Thomas Hürlimann in der NZZ erschienen. Thomas Hürlimann, Schriftsteller, Sohn des verstorbenen Bundesrates Hans Hürlimann, lebt einen Teil des Jahres am stillen Sihlsee und den Rest in Berlin-Kreuzberg, um, wie er sagt, am pulsierenden Leben dieser Grossstadt teilhaben zu können. Er schrieb – ich zitiere: „Manchmal bin ich bedrückt und traurig, es überfällt mich das Heimweh. Dann lese ich ein Kapitel aus Kellers „Grüner Heinrich“. Schon spüre ich das Heimatgefühl und es geht mir wieder gut.“
Zwei, drei Wochen später in einem weiteren Zeitungsartikel drückte Peter Bichsel, Schriftsteller in Solothurn, seine Verehrung für den grössten Schweizer Dichter Gottfried Keller aus. Ihm, Bichsel, wird nachgesagt, dass er Gottfried Keller äusserlich nachahme mit seinem wilden Dichterschopf, seiner „Anlegi“ mitsamt der Nickelbrille und seiner Vorliebe für ein Glas Wein in der „Chnelle“.
Zwangsläufig muss ich auch auf das Buch von Adolf Muschg „Oh mein Heimatland“ zu sprechen kommen. Muschg, Literaturprofessor an der ETH und nicht gewählter SP Ständerat, widmet einen grossen Teil des Inhaltes dieses Werkes der Auseinandersetzung mit seinem Erzfeind Christoph Blocher. Mindestens gleichviel handelt aber auch vom Leben Gottfried Kellers, den er als den grössten Zürcher Dichter bezeichnet und den er sehr verehrt.
Nachdem ich drei so verschiedene, geistig und politisch anders ausgerichtete Schweizer Schriftsteller zitiert habe, möchte ich noch einen, vor kurzem in einem kleinen Zürcher Weltblatt (Altstadtkurier) erschienen Artikel erwähnen. Titel: „Gottfried Keller – Rückblick auf ein bewegtes Leben“. Und dann in Grossbuchstaben über die ganze Breite: „MEHR ALS 100 JAHRE TOD UND DOCH GANZ GEGENWART“. Aus diesem Beitrag lese ich den Schlussabschnitt vor: „Zürich hat sich während Kellers Lebensspanne von der Biedermeieridylle zur aufstrebenden Kapital- und Industriestadt gewandelt. Verändert haben sich auch die Werte und Ideale der Staatsgründung“. Bei allem Patriotismus und aller Staatsloyalität hatte Keller keine Freunde an dieser Entwicklung. In seinem Altersroman „Martin Salander“ kritisiert er Geldstreben, Machtdenken und Rechtsmissbrauch. Gottfried Keller ist aktueller denn je! Im Sinne dieser vier Aussagen, rufe ich zum Schluss, wie alle meine prominenten Vorgänger, dazu auf, wieder einmal ein Buch von Gottfried Keller zu lesen und zu geniessen. Unsere Zunft möge es weiterhin als ehrenvolle Verpflichtung betrachten, das Andenken an unseren grossen Dichter zu pflegen. Heute Nachmittag am Umzug dürfen wir Hottinger mit Stolz das Zeitalter von Gottfried Keller darstellen. Und jetzt wöisch ich eus allne e schööns Säächsilüüte und bitte de Bannerherr um de Fahnegruss.
Peter Eckert
(verfasst aufgrund handgeschriebener Notizen, deren Tinte im strömendem Regen buchstäblich davon gelaufen ist)