Rede am Grab 2003 (Dr. Christoph Hiller)

Sechseläuten 2003

„Ein Tag kann eine Perle sein. Und ein Jahrhundert nichts.“ (1)

Dieser Spruch von Gottfried Keller steht unten an seinem Porträt, welches in der „Öpfelchammer“ hängt. Ich habe ihn abgeschrieben, als mich der Statthalter kürzlich dort hin zum Mittagessen eingeladen hat und mich fragte, ob ich dieses Jahr am Grab von Gottfried Keller sprechen möchte. Es war – um präzis zu sein – weniger eine Anfrage, als vielmehr ein ziemlich unmissverständlicher Appell an mein Pflichtbewusstsein… Als ich mich dann hinsetzte, um an meiner Rede zu schreiben, befielen mich etwelche Zweifel, ob jener Tag mit jener Aufforderung – um auf den eingangs zitierten Spruch zurückzukommen – als Perle in meinen Lebenslauf eingehen wird. Doch das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass für den heutigen Tag, für das heutige Fest ganz sicher gilt: „Ein Tag kann eine Perle sein. Und ein Jahrhundert nichts.“

Dieser Sinnspruch gibt mir den Anfang für meine Worte. Ich denke, es ist nicht falsch, wenn man nicht nur im, aber auch vom Moment lebt. Jeder Tag hat seine schönen Seiten, und so ein Festtag wie heute erst recht. Und das soll man auch geniessen! So kann ein einzelner Tag im Verhältnis zu einem ganzen Jahrhundert einem sehr viel mehr bedeuten und sehr viel wertvoller sein.

Gleichwohl steht der jeweilige Tag, der jeweilige Moment nicht autonom da – darf nicht autonom dastehen. Er ist immer aufgebaut auf dem, was hinter uns liegt: auf der Vergangenheit, oder anders gesagt: der Tradition. Sie gibt das nötige Fundament für eine absehbare Zukunft, gibt eine Gewissheit, was uns erwarten kann. Und so gilt es, nicht einfach in den Tag hineinzuleben – nein, ich bin überzeugt, dass es ganz wichtig ist, immer auch die grössere Dimension der Zeit im Auge zu behalten. Wir suchen denn auch immer wieder nach Wiederholungen, nach festen, bekannten Abläufen – nach Traditionen eben -, welche sich im Verlauf des Jahres, der Jahrhunderte immer wieder von neuem abspielen. Und wir freuen uns jeweils schon lange im Voraus auf die Ereignisse, welche ihren festen Platz in der Agenda haben.

Sie werden, liebe Mitzünfter, nicht erstaunt sein, wenn mich diese Aussage den Schluss auf den heutigen Tag machen lässt: Eine dieser ganz schönen Traditionen ist für uns Zürcher unzweifelhaft das Sechseläuten, und eine weitere Tradition ist für uns Hottinger der Besuch am Grab als besinnlicher Auftakt zum fröhlichen Frühlingsfest. Diese Tradition will es, dass sich jeweils ein Zünfter über seinen ganz persönlichen Bezug zu Gottfried Keller ein paar Gedanken macht und die Zunft an diesen Gedanken teilhaben lässt. Wie wir alle habe auch ich als Hottinger einen speziellen Bezug zu Keller. Darüber hinaus aber gibt sich eine weitere Verbindung: Keller war seit 1877 Mitglied, Ehrenmitglied sogar, der Zürcher Feuerwerkergesellschaft oder, wie sie auch heisst, des Artilleriekollegiums. Und so bin ich besonders stolz, Präses dieser Gesellschaft sein zu dürfen. Erlauben Sie mir deshalb, liebe Zunftfreunde, Ihnen die Hintergründe der Feuerwerkergesellschaft aufzuzeigen. Die Ursache, welche vor über 300 Jahren zur Gründung der Feuerwerker führte, wäre auch heute nicht minder aktuell: das Loch in den Staatsfinanzen nämlich. Als Folge der Sparsamkeit der damaligen Regierung war man für die Verbesserung der militärischen Ausrüstung und Ausbildung auf private Initiative angewiesen. Anders als heute aber liess sich diese damals bei der Bevölkerung relativ einfach aktivieren, da in jener Zeit jegliche Form von Dienst am Vaterland beim Bürger hohe Wertschätzung genoss. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts sprangen Constaffler und Zünfte in staatliche Aufgaben ein und übernahmen eine Funktion als Träger der Wehrhaftigkeit, indem sie die Anschaffung von Mörsern finanzierten (2). In Ergänzung dazu wurde im Jahr 1686 die «Gesellschaft der Constaffleren und Feuerwerker in Zürich» gegründet (3). Diese nahm sich als freiwillige Schule den Ausbildungsfragen der Artillerieoffiziere der Zürcher Miliz an. Und bis in die heutige Zeit hat das Kollegium seine Bedeutung behalten als Zusammenschluss von Zürcher Offizieren, welche sich für unsere Wehrbereitschaft einsetzen. Und: welche die Traditionen hochhalten!

Der Wert der Traditionen kommt auch im Werk von Gottfried Keller hier und dort zum Ausdruck. Er verfasste nicht zuletzt mit seinen Züricher Novellen ein Lob auf die Herkunft; ein Lob auf die Herkunft im Sinn der Freude an der engeren Heimat und im Sinn der Treue zur Vergangenheit. So ist es vielleicht nicht zufällig, dass in der Einleitung zu den Züricher Novellen Keller einen Bezug zu seiner Feuerwerkergesellschaft und am damals bereits Alt-hergebrachten herstellt. In der Rahmengeschichte, ganz zu Beginn, wird die Figur von Herrn Jacques beschrieben auf einem morgendlichen Spaziergang im biedermeierischen Zürich um das Jahr 1820, wie er – ich zitiere auszugsweise –

«plötzlich (…) eine von Hügeln und Bergen eingeschlossene Ebene betrat, die Wollishofer Allmende genannt, auf welcher sich ihm ein Schauspiel darbot. Auf dieser Allmend sah er nämlich ein Häuflein meistens älterer Herren sich rüstig und doch gemächlich durcheinander bewegen und alle Vorbereitungen zu einem erklecklichen Bombenwerfen ausführen. Es waren die Herren der löblichen alten Gesellschaft der Constaffleren und Feuerwerker, welche dieses kriegerische Wesen zu ihrem Privatvergnügen sowohl als zu gemeinsamem Nutzen betrieben und heute ihr jährliches Mörserschiessen feierten. Da waren also mehrere solcher Geschütze, in der Sonne glänzend, aufgepflanzt; daneben stand ein grosses offenes Zelt; der Tisch darunter trug Papiere, Instrumente sowie Flaschen und Gläser (…). (Die Herren) säuberten aufmerksam die Bettungen der Geschütze und brachten alles wohl in seine Lage (…). Endlich aber begann das schleunige Schiessen, des Feindes Verdriessen! Bald wälzten sich die Rauchwolken über die Fläche, während die Bomben in hohem Bogen am blauen Himmel nach der Scheibe hinfuhren und die Herren in stiller Fröhlichkeit hantierten wie die baren Teufel. Hier setzte einer die Bombe in den Mörser, dort senkte ein anderer das Geschütz und richtete es kunstgerecht, ein dritter zündete an und „der vierte den Mörser schon wieder ausbutzt, Vulkanes Gesinde hier dient und trutzt!“ wie es bereits in einem Neujahrsstücke von 1709 heisst. Bei aller Furia leuchtete aber doch eine altväterische Frömmigkeit aus den Augen dieser Vulkansdiener, (…) und man konnte sich an jenes andere Fragment ihrer artilleristischen Poesie erinnern, welches lautet:

„Wann der Satan mit Haubitzen
Seine Plagen auf dich spielt,
Dann so wisse Dich zu schützen
Mit Gebet als einem Schildt (…)!“» (4)

Was Keller in diesem Passus beschreibt, wird bis heute jedes Jahr am dritten Samstag im Juni auf die gleiche Art und Weise und am gleichen Ort durchgeführt. Gerade in der heutigen, schnelllebigen Zeit ist es alles andere als selbstverständlich, dass sich so altherkömmliche Abläufe über Jahrhunderte halten und bewahren können. Es ist aber in meinen Augen erst recht etwas unglaublich Wertvolles! Traditionen sind definitionsgemäss etwas Statisches – und je bewegter die Zeiten, desto mehr sucht der Mensch nach Bekanntem, nach fixen Punkten, nach aufgrund fester Regeln ablaufender Anlässe. Oder anders gesagt: nach Tagen, die Perlen sind!

Die Beschreibung des Mörserwerfens auf der Zürcher Allmend ist aber nicht bloss ein Aufruf zur Wahrung von Traditionen, sie ist auch ein Zeichen der Wehrbereitschaft, wie sie zu Kellers Zeiten noch weit verbreitet war. Und so gilt es, sich gleichzeitig zu fragen, für was die Bereitschaft, sich zu wehren, überhaupt steht. Bereit sein, zu kämpfen, ist bestimmt nicht Selbstzweck. Immer muss man sich bewusst sein, wozu es sich überhaupt lohnt – was es überhaupt zu verteidigen gilt. Die Antwort liegt auf der Hand: unser Land selbstverständlich. Aber was ist es denn, was unser Land ausmacht; was ist es, dass wir für unser Land einstehen? Diese Frage lässt mich zu einer weiteren Verbindung kommen, die ich persönlich zwischen Gottfried Keller und mir selber sehe: die Politik, oder genauer: der Liberalismus. Die Freiheit, welche im Notfall gegen äussere Gegner verteidigt werden muss – diese Freiheit muss zuerst im Inneren erschaffen und auch immer wieder erneuert und bewahrt werden. Und das ist die Aufgabe eines jeden Bürgers, oder eben – etwas allgemeiner ausgedrückt – der Politik.

Gottfried Keller hat sich 1842 der liberalen Partei angeschlossen und sich als Freisinniger politisch betätigt, um den liberalen Staatsideen, den bürgerlichen Verfassungen zum Durchbruch zu verhelfen. Kellers radikal-demokratische Überzeugung kommt – Sie kennen das alle bestens – im «Fähnlein» zum Ausdruck: die Sieben Aufrechten verkörpern den Inbegriff des Republikaners; sie setzen sich bedingungslos für Recht und Freiheit ein, für Selbstverantwortung aber auch, und postulieren: „Regierungen und Bataillone können Freiheit und Recht nicht schützen, wo der Bürger nicht selbst in der Lage ist, vor die Haustür zu treten und nachzusehen, was es gibt.“ Selbstverantwortung also, aber auch Vaterlandsliebe. Gottfried Keller sagt an anderer Stelle: „der Nationalcharakter der Schweizer (…) besteht in ihrer Liebe zur Freiheit, zur Unabhängigkeit, er besteht in ihrer ausserordentlichen Anhänglichkeit an das kleine, aber schöne und teure Vaterland.“ (5) Kellers Werk ist bestimmt nicht von blindem Patriotismus geprägt, aber doch von Nationalstolz – von Stolz darauf, dass die Schweiz als Staats- und Gemeinwesen sich nach Identität und Vielfalt verbürgenden Grundsätzen gefunden hat. Vom Stolz also auch auf echte freisinnige Errungenschaften!

Das Idealisieren des Liberalismus wurde später dann allerdings relativiert. Im rasch wachsenden Kapitalismus unsolid aufgebaute Unternehmungen sind von Spekulanten in den Ruin geritten worden, so dass ein wirtschaftlicher Katzenjammer die Euphorie der Gründerzeit ablöste. An diesem Malaise kam auch die Politik nicht ungeschoren vorbei.

Nach seinem Rücktritt als Staatsschreiber äussert sich Keller denn auch entsprechend selbstkritisch: „Das „Fähnlein“ (…) ist bereits ein antiquiertes Grossvaterstück; die patriotisch-politische Zufriedenheit, der siegreiche altmodische Freisinn sind wie verschwunden (…).“ (6)

Für uns im Jahr 2003 ganz offensichtlich ein déja-vu und vielleicht auf seine Art auch ein Trost. Abzockertum, wie man heute sagen würde, und Abwendung von freiheitlicher Politik scheinen keine völlig neuen Zeiterscheinungen zu sein. Es wird also auch für die Zeitgenossen von heute eine Phase kommen, wo dies bewusst wird. Das bedingt aber das Einhalten einer wirtschaftlichen Ethik und von jedem Einzelnen von uns politische Aktivität oder mindestens Interesse. Dazu nochmals ein Zitat von Keller: „Die träge Teilnahmslosigkeit eines Volkes endet immer mit der Missachtung seiner Einrichtungen und mit dem Verlust der Freiheit.“ Und an anderer Stelle7 ruft er ganz konkret auf: „In der hohen Bedeutung des Rechtes, das diese Wahlen in Eure Hände legt, liegt die Aufforderung an Euch, die Ausübung desselben nicht zu versäumen!“

Gottfried Keller plädiert in seinen Schriften für politisches Engagement und gegen Gleichgültigkeit, für das Wohl des Ganzen und gegen bloss private Interessen, für uneigennützigen Dienst am Vaterland und gegen unmässige Bereicherung, aber auch für Eigenverantwortung und gegen Verstaatlichung. Die Lektüre und das Sich-zu-Herzen-Nehmen von Kellers Werk wäre für manchen heutigen Wirtschaftsführer und für manchen Staatsbürger heilsam! Oder, um es mit den Worten des seinerzeitigen Stadtpräsidenten Hans Konrad Pestalozzi zu sagen, welcher an der Abdankungsfeier von Keller sehr pathetisch, fast kitschig, ausrief: „Dass Gottfried Keller ein so treuer Sohn seiner Heimat geblieben, dass er dieses Volk (…) so treu und wahr geliebt, das danken wir ihm ewig. Wir Alle, die wir hier stehen, wir wollen in dieser geweihten Stunde uns geloben, dem Vaterlande alle unsere Kraft zu weihen.“

Mögen diese Worte Motivation sein, dass wir wieder Vertrauen in die Politik finden, an die Urne gehen und uns aktiv am öffentlichen Leben beteiligen. Nur so – da bin ich überzeugt! – nur so kann der Rahmen gesetzt werden, dass Sicherheit, Freiheit und Wohlstand im Land herrschen; dass die Schweiz in ihrer einmaligen Form bewahrt wird! Liebe zur Tradition – Wehrbereitschaft – Bürgerpflichten – echter Freisinn: vier Stichwörter, welche die Zürcher Zünfte aber auch mich ganz persönlich mit Gottfried Keller verbinden und – Sie erlauben mir, den Kreis zu schliessen -, welche für jeden Einzelnen die Voraussetzungen, das Umfeld schaffen, viele schöne, unvergessliche Tage – Tage wie heute! – in die Zeitkette zu reihen, so dass immer wieder ausgerufen werden kann:

«Ein Tag kann eine Perle sein. Und ein Jahrhundert nichts.»

Hochgeachteter Herr Zunftmeister, liebe Zunftfreunde – in diesem Sinn: «Es schöns Sächsilüüte!»

(1) Aus dem Gedicht „Die Zeit geht nicht“.

(2) Die erfolglose Beschiessung Rapperswils im Ersten Villmergerkrieg (1656) zeigte die Bedeutung der Bogenschusswaffen auf. Vgl. Geschichte des Kantons Zürich, Band 2, Zürich 1996, S. 355f.

(3) Im Anschluss an die bewegte Zeit des 30jährigen Krieges wurden im Jahre 1657 in Zürich die ersten vier Artillerie-Kompanien gegründet – in der Schweiz die ersten Artillerie-Formationen überhaupt. Es war das Verdienst des als Zeugherr amtierenden Heinrich Werdmüller (1651-1735), die jungen Artilleristen nicht mehr nach der überkommenen Büchsenmeistermanier, sondern in systematischer Verbindung von theoretischer und praktischer Schulung gründlich auszubilden. Der bereits existierende lose Arbeitskreis zum Studium der Artillerie-Probleme wurde in eine von der Obrigkeit anerkannte Organisationsform überführt, innerhalb welcher gemäss verbindlichen Richtlinien die notwendigen technischen Grundlagenkenntnisse vermittelt werden konnten. Das führte am 29. März 1686 zur Gründung der „Gesellschaft der Constaffleren und Feuerwerker“, kurz „Artillerie-Kollegium“ genannt.

(4) „Züricher Novellen“, 1876.

(5) Zitiert nach General Henri Guisan in „Hundert Jahre Bundesstaat“, 1948.

(6) Brief an Theodor Storm, 25. Juni 1878.

(7) Maiwahlen

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