Sechseläuten 2005
Gottfried Keller und der Schmerz
Gottfried Keller (1819-1890) entstammte einer angesehenen Handwerkerfamilie. Der Vater, ein Drechslermeister, setzte sich, fortschrittlich gesinnt, für das Gemeinwohl des unteren Mittelstandes ein. Seine Mutter verkörperte Sparsamkeit, Selbstaufopferung und Frömmigkeit.
Er begann schon früh, ein dreifaches Trauma prägte Kellers Jugend: Der frühe Tod seines Vaters (1826), die Wiederverheiratung der Mutter im selben Jahr mit Jakob Wild, dem ersten Gesellen der Werkstatt, und die Ausweisung aus der Schule im Alter von 15 Jahren.
Keller fühlte sich zum Landschaftsmaler berufen und nahm 1834/37 bei verschiedenen Lehrern Unterricht. Im April 1840 reiste er, finanziell von seiner Mutter unterstützt, nach München um sich künstlerisch weiterzubilden, aber seine Hoffnungen zerschlugen sich. Im November 1842 kehrte Keller mut- und ziellos nach Zürich zurück. Wie sein Tagebuch bezeugt, folgten Monate tiefster Lethargie.
Die Spuren dieser Erfahrungen durchziehen Kellers Leben und literarisches Werk in zahllosen Variationen: sie treten in dem Motiv von Verlust, Schuld, Versagen und Schmerz zutage. Im frühen Gedicht Wetternacht findet er die Worte:
O reiner Schmerz, der von den Höhn gewittert, Du heilges Weh, das durch die Tiefen zittert, Ihr schliesst auch mir die Augen auf! Ihr habt zu mir das Zauberwort gesprochen Und meinen Hochmut wie ein Rohr gebrochen, Und ungehemmt fliesst meiner Tränen Lauf!
Gesteigert wurde diese Lethargie noch durch die unglücklich verlaufenen ersten Liebschaften zu Marie Melos und Luise Rieter. Die beiden Gedichte Trauerweide und Scheiden und Meiden sind Ausdruck von Liebes- und Trennschmerz und im ersten wird man ganz leise an die Leiden Christi erinnert:
Trauerweide
Ich wandle wie Christ auf den Wellen frei, Als die zagenden Jünger ihn riefen; Ich senke mein Herz wie des Lotsen Blei Hinab in die schweigenden Tiefen; Ein schmales Gitter von feinem Gebein, Das liegt dort unten und schliesst es ein.
Die Trauerweide umhüllt mich dicht, Rings fliesst ihr Haar aufs Gelände, Verstrickt mir die Füsse mit Kettengewicht Und bindet mir Arm und Hände: Das ist jene Weide von Eis und Glas, Hier steht sie und würgt mich ins grüne Gras.
Noch viel deutlicher wird die Klage über der Liebe Tod im zweiten Gedicht Scheiden und Meiden:
Schwarzer Gärtner, Grabespfleger, Lass, o lass das Grab(1) verwildern! Seine wermutbittern Schauer Soll kein Lenz mehr freundlich mildern! Binde nicht mehr diese Zweige Tränke nicht mehr diese Rosen! Und mit dem verdorrten Kranze Mag der kalte Nordwind kosen!
Ein Stipendium der Zürcher Regierung ermöglichte Keller 1848/49 einen Studienaufenthalt in Heidelberg. Hier machte er die schmerzvolle Erfahrung einer unerwiderten Liebe. Der Verlust des Traumbildes Johanna Knapp, ein Schankmädchen, findet sich in einem Vers zu den:
Vier Jahreszeiten
Die Traube schwoll so frisch und blank, Und ich nahm froh und frei Aus ihrer Hand den jungen Trank – Und als die letzte Traube sank, Da war der Traum vorbei.
Ein erneutes Stipendium der Zürcher Regierung führte Keller im April 1850 nach Berlin. Auch hier wurde er 1855 nach der unglücklichen Beziehung zu Betty Tendering von Liebesschmerz geschüttelt. Ein Theaterkritiker notierte im selben Jahr, er habe in einer Kneipe eine Begegnung mit einem rohen, angetrunkenen Individuum gehabt, dessen pöbelhaftes Benehmen auf keinen Mann von Bildung habe schliessen lassen. Der „Mann ohne Bildung“ habe sich dann als Gottfried Keller, Literat, zu erkennen gegeben.
In der Lebensmitte, der Junggeselle Keller hatte sich – durch den Einfluss seiner Heidelbergerlehrer Hermann Hettner und Ludwig Feuerbach – vom romantischen Denken abgekehrt und schrieb in materieller Not und Einsamkeit in Berlin und nach der Rückkehr in Zürich fünf Jahre lang an seinem autobiographisch geprägten Roman „Der grüne Heinrich“. In dieser Zeit entstanden die folgenden Gedichte:
Die Zeit geht nicht
Die Zeit geht nicht, sie stehet still, Wir ziehen durch sie hin; Sie ist eine Karawanserei, Wir sind die Pilger drin.
Ein Etwas, form- und farbenlos, Das nur Gestalt gewinnt, Wo ihr(2) drin auf und nieder taucht, Bis wieder ihr zerrinnt. Es blitzt ein Tropfen Morgentau Im Strahl des Sonnenlichts, Ein Tag kann eine Perle sein Und ein Jahrhundert nichts.
Im Gedicht Flackre, ewges Licht im Tal versuchte er sich von seinem Herzschmerz loszuschreiben:
Und nur du, mein armes Herz, Du allein willst ewig schlagen, Deine Lust und deinen Schmerz Endlos durch die Himmel tragen?
Wie der Staub im Sonnenstrahle Wallt‘s vorüber, Kern und Schale – Ewig ist, begreifst es du, Sehnend Herz? Nur deine Ruh!
In den Gedichten Sonnenuntergang und Feldbeichte kehrt Ruhe ein, hält Keller inne und betet:
Sonnenuntergang
O reiche mir noch einen Strahl Des Lichtes, dass er auf mich falle Und ich in diesem Dämmertal An deiner Hand hinüberwalle! Lass mich an deinem Hofe weilen, Als lichte, leichte Wolke nur, Vor deinem Zuge kündend eilen Als deines Glanzes schwächste Spur!
Keller beichtet im Feld, in der Natur und nicht in der Kirche, die er mied:
Feldbeichte
Da geht das Dichterjahr zu End, Da wird mir ernst zu Mute; Im Herbst nehm ich das Sakrament Im jungen Traubenblute.
Und wenn er(3) grämlich zögern will, Der Last mich zu entheben, Dann ruf ich: „Alter, schweig nur still, Es wird mir schon vergeben!
Ich habe längst mit Not und Tod Ein Wörtlein schon gesprochen!“ Dann wird mein Pfaff vor Ärger rot Und hat sich bald verkrochen.
Nach einer brotlosen Zeit, in der er bis 1860 bei seiner Mutter und der Schwester wohnte, erfolgte 1861 Kellers Wahl zum ersten Staatsschreiber des Kantons Zürich. Die materielle Not hatte ein Ende.
Doch die Erfüllung des Liebesglücks blieb ihm weiterhin verwehrt. Nach dem Tode seiner Braut Luise Scheidegger (1866) nahm er sein ausschweifendes Nacht- und Beizenleben wieder auf. Auskunft darüber findet sich in einem Polizeirapport: „Herr Keller, Staatsschreiber, an der Kirchgasse No. 33, hat vom 27./28. Oktober 1866, Nachts 1 1/2 Uhr, in betrunkenem Zustande, an der Storchengasse durch Lärmen & Poltern an der Haustüre des Café litteraire, die nächtliche Ruhe gestört, und beschimpfte die Polizisten, welche ihn warnten, auf insolente Weise.“ Der Staatsschreiber wurde mit 15 Franken gebüsst.
Kellers Herbstlied gibt uns trefflich seine damalige Stimmung wieder:
Wohl wird man edler durch das Leiden Und strenger durch erlebte Qual; Doch hoch erglühn in guten Freuden, Das adelt Seel und Leib zumal. Und liebt der Himmel seine Kinder, Wo Tränen er durch Leid erpresst, So liebt er jene drum nicht minder, Die er vor Freude weinen lässt!
Und sehnen blasse Gramgenossen Sich nach dem Grab in ihrer Not, Wem hell des Lebens Born geflossen, Der scheut noch weniger den Tod! Taucht euch ins Bad der Lust, ins klare, Das euch die kurze Stunde gönnt, Dass auch für alles heilig Wahre Ihr jede Stunde sterben könnt!
So hält er denn auch im Gedicht Tod und Dichter das Gespräch zwischen den beiden fest. Das Zitat daraus ist Ausdruck seiner glücklosen Beziehungen zu Frauen, die jedes Mal einen unendlichen Liebesschmerz zurück gelassen haben:
Tod
Reif genug schon bist du den Gerichten!
Dichter
Doch die lieblichste der Dichtersünden Lasst nicht büssen mich, der sie gepflegt: Süsse Frauenbilder zu erfinden; Wie die bittre Erde sie nicht hegt!
Nach all diesen Erfahrungen blieb Keller nur noch Trübsinn und Schwermut. Im Gedicht Melancholie bekennt er sich dazu:
Sei mir gegrüsst, Melancholie, Die mit dem leisen Feenschritt Im Garten meiner Phantasie Zur rechten Zeit ans Herz mir tritt! Die mir den Mut, wie eine junge Weide, Tief an den Rand des Lebens biegt, Doch dann in meinem bittern Leide Voll Treue mir zur Seite liegt!
Im Poetentod und in Vorahnung des Lebensendes schliesst Keller dieses Gedicht mit dem Vers:
Voran, gesenkten Blicks, das Leid der Erde, Verschlungen mit der Freude Traumgestalt, Die Phantasie und endlich ihr Gefährte, Der Witz, mit leerem Becher, still und kalt.
Mit dem Witz spielt er auf den für ihn kennzeichnenden humoristischen Einschlag an, der vor allem in den Leuten von Seldwyla, bald versöhnlich skurril, bald sarkastisch die Brüchigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse und letztlich der menschlichen Existenz hervorhebt.
1889, zum 70. Geburtstag, überreichte ihm der schweizerische Bundesrat eine Glückwunschurkunde, doch den öffentlichen Feiern blieb Keller fern. Seine letzten Lebensjahre waren von dem Kontrast zwischen öffentlichem Ruhm und persönlichem Schwermut gekennzeichnet. Der deutsche Literat Peter Hille schrieb damals: „Und seit seine Schwester, die ihm den Haushalt führte, gestorben war, mochte es ihm gar einsam sein daheim“. Kellers kropfkranke Schwester starb 1888. Nach ihrem Tode verfiel auch seine Gesundheit rasch und er verstarb am 15. Juli 1890.
Im selben Jahr schrieb Kellers Rivale Conrad Ferdinand Meyer an seinen Verleger Haessel: „Besonders jetzt, da er todt ist, reinigt sich sein Bild für mich völlig von dem Gemeinen, das dem Lebenden anklebte und das durchaus nicht in seinem Wesen lag, sondern aus der Wirtshausumgebung und Weinatmosphäre herstammte, zu der er durch den Coelibat verdammt war…“.
Ich schliesse meine Gedanken mit den zauberhaften Schlussversen, die unser Gottfried Keller in der Erwiderung auf das Lied Unter dem Himmel von Justinus Kerner schreibt:
Und wenn vielleicht in hundert Jahren Ein Luftschiff hoch mit Griechenwein Durchs Morgenrot käm hergefahren – Wer möchte da nicht Fährmann sein?
Dann bög ich mich, ein sel‘ger Zecher, Wohl über Bord, von Kränzen schwer, Und gösse langsam meinen Becher Hinab in das verlassne Meer.
(so zusammengetragen am Ostermontag 2005 von Jürg E.Schneider)
(1) („das Grab“der Liebe)
(2) („ihr“, die Frauenbilder)
(3) („er“,der Herbst)