Rede am Grab 2007 (Hans Jörg Schibli)

Sechseläuten 2007

Hochgeachteter Herr Zunftmeister
Liebe zünftige Freunde
Liebe Gäste

„Wer ist der Weiseste hienieden auf dieser Erden? Der, welcher Weisheit grosser Denker zu seiner eigenen lässt werden.“

Ein tiefsinniger Spruch, dem ich schon lange nachlebe, der aber weder von Gottfried Keller, noch von Goethe stammt, sondern von mir: „luege, lose, läse“, was grosse Denker sagen, schreiben, denken; dann 
– das Beste daraus entnehmen,
– darüber nachdenken,
– am Schluss gar daran glauben, die Gedanken selber entwickelt zu haben.
Das war immer sehr hilfreich in meinem Leben, besonders für mein Ego.

Balz Koenig sei Dank! Mit seinem Buch „Reden am Grab von Gottfried Keller“, das er uns am letzten Rechenmahl geschenkt hat, konnte ich in allen Details nachlesen, was alles an Gescheitem, an Weisem, an Tiefsinnigem an dieser Stelle seit 1967 gesagt worden war. Und ich kann euch versichern: es ist unwahrscheinlich viel Gescheites, Weises, Tiefsinniges von grossen Denkern gesagt worden. Was allenfalls zur kompletten Biographie von Gottfried Keller noch fehlt, kann mühelos im Google abgerufen werden Somit, liebe Freunde, rufe ich euch zu:

Lest das Buch von Balz und googelt! Ein schönes Sechseläuten in Freundschaft in der Freiheit!

Damit ist alles gesagt, was es zu sagen gibt. Es braust Applaus und wir schreiten zum Mittagessen.

Nachdem aber nichts braust, gehe ich davon aus, dass ihr noch mehr von mir erwartet. Ihr erwartet zu Recht (gross geschrieben nach der 4. Revision der Revision des Neuen Duden).

So komme ich halt nochmals zurück auf Balz Koenigs Buch. Beim Lesen der Reden ist mir aufgefallen:

– es wurde viel Bezug genommen auf den Grünen Heinrich
– ebenso auf unser berühmtes Fähnlein der sieben Aufrechten
– auf das liberale, bürgerliche Gedankengut der jungen Schweiz, von Gottfried Keller verkörpert
– und natürlich auf die Biographie

Auf das umfassende, ausserordentlich feinfühlige erotische Schriftwerk von Gottfried Keller ist bisher jedoch noch kein Redner zu sprechen gekommen.

Und jetzt, liebe Freunde: Es liegt mir ferne, mich lustig machen zu wollen, oder gar zu zoten.

Sondern: Ich möchte mir Gedanken machen zum Thema:

Auch grosse Denker sind nur Männer.

Auch grosse Denker, die mit ihrem Kopf Hervorragendes leisten, auch sie sind unentrinnbar hormon-gesteuert. Ich betrachte mich als legitimiert zu dieser Aussage, da ich immerhin auf 71 Jahre eigene Erfahrung zurückblicken kann.

Es gab Zeiten, da wurden die politischen, beruflichen, künstlerischen Leistungen eines Mannes gewürdigt; von seinem Liebesleben nahm man Kenntnis. Es galt als selbstverständlich, dass Könige und Fürsten ihre Maitressen hielten; und dass August der Starke bei Ausfahrten über Land die Landmädchen vernaschte, wo es gerade war (trockenes und warmes Wetter vorausgesetzt) erfährt jeder, der heute Dresden besucht.

Dann gab es auch Zeiten, da wurden die Hormonschübe der Herren der Schöpfung verschwiegen und verdrängt, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte.

Und heute? Heute wüssten die unzähligen Illustrierten, aber auch die Tagespresse und das Fernsehen gar nicht, wie sie ihre Seiten und Zeiten füllen sollten, wenn nicht Prinz Charles intime Telefongespräche mit seiner Camilla geführt, Bill Clinton mit seinen Praktikantinnen Spielchen gespielt hätte, Alexander Pereira das 20 jährige Brasilianerli in der Loge vernaschen würde.

Die Berichterstattung darüber ist plump und voyeuristisch. Würden heutige Journalisten und Fernsehmacher Gottfried Keller lesen, so wüssten sie, wie diskret, wie fein, aber wie umso erotischer das Wirken der männlichen Hormone beschrieben werden kann. Wollt ihr Beispiele dazu? Natürlich wollt ihr.

Der Landvogt von Greifensee, eine Anhäufung von Liebesgeschichten! Die Novelle erzählt, wie Salomon Landolt in seinen jungen Jahren fünf tiefgehende Liebesbeziehungen durchlebt, von denen jedoch keine in eine feste eheliche Bindung mündet. Den fünf Liebesgeschichten lässt Gottfried Keller eine sechste Geschichte folgen, in welcher der ledige Mittvierziger Landolt die nunmehr reifen ehemals Geliebten gemeinsam zu sich einlädt und es fertig bringt, sie liebevoll zu Eifersucht anzu-stacheln. Eine wunderschöne Sammlung zartester Liebesgeschichten!

Oder: Das Sinngedicht, ein erotisches Meisterwerk! Der junge Naturwissenschafter Reinhart vergisst vor lauter Forschen, zu leben. Erst, als er in seinem Labor, in dem er seine Tage verbringt, bei der Spektralanalyse des Sonnenlichtes feststellt, dass mit seinen Augen nicht mehr alles zum Besten bestellt ist, erinnert er sich einer tiefen Weisheit: Augen sind zu stärken durch fleissiges Anschauen schöner Weibsbilder.

Liebe Freunde, verinnerlicht Euch diesen Satz und freut Euch auf die kommende mini-mini-Sommermode!

Und wie der junge Naturwissenschafter sich noch weiteren Rat bei Lessing holt, stösst er auf den Spruch von Friedrich von Logau:

„Wie willst du weisse Lilien zu roten Rosen machen? Küss eine weisse Galatee, sie wird errötend lachen.“

(Google sei Dank, weiss ich doch jetzt auch, dass eine Galatee in der griechischen Mythologie zu suchen ist, und es sich um eine Nymphe mit besonders weisser Haus handelt.)

So zieht also der junge Wissenschafter aus, um das Experiment zu erproben und nicht eher zurückzukehren, als bis er es erfolgreich durchführen konnte. 314 Seiten der Gottfried Keller Birkhäuserausgabe lang experimentiert der wiss- und auch sonst begierige Reinhart.

Der Verschleiss an Probandinnen ist gross: die einen lassen sich schon gar nicht erst küssen; die andern lassen sich küssen, werden aber weder rot, noch lachen sie; wieder andere werden rot und lachen nicht, oder lachen und werden nicht rot.

Soll mal heute jemand 314 Seiten schreiben zum Thema: Küss eine weisse Galatee, sie wird errötend lachen; und zwar spannende Seiten, Seiten voller Leben, dabei ohne Kitsch und ohne hard Sex!

Von hard Sex ist meines Wissens bei Gottfried Keller nur in einem Werk die Schreibe: im Schmied seines Glücks. Zwei Sexszenen finden sich da, die erste eine fiktive. Das reiche, zeugungsunfähige Alterchen Litumlei (Originalton Keller) will einen unehelich gezeugten Sohn erfinden, um damit den Grundstein zu einer dereinst berühmten Dynastie legen zu können. Der junge Hans Kabis, der sich auf der Suche nach Glück in John Kabys umbenannt hat, ist gerade der Richtige, um ihn zum unehelichen Sohn zu mutieren. Das Alterchen und John konstruieren gemeinsam die Geschichte der ausserehelichen Zeugung. Das liest sich dann so:  

Und dann kam ER und hiess Adam Litumlei. Weiter brauchte es eine gewisse Jungfrau Lieselein Federspiel……..Diese war eine der reizendsten Schönheiten, ……. , mit blauen Augen und kleinen Füssen. Sie war so schön gewachsen, dass sie kein Korsett brauchte. ……… Wie sie nun dastand, kam jener verwegene Litumlei und sagte unverweilt: “Federspiel, ich liebe dich!“ ……. Kurz, es kam, wie es kommen musste: wo das Wäldchen auf der Höhe stand, sass mein Federspiel im Grünen ….; aber schon sprang der Ritter auf seinen Schimmel und flog so schnell in die Ferne, dass er durch die platzgreifende Luftperspektive in wenigen Augenblicken ganz bläulich aussah. …….. er war ein Teufelsbraten! So wurde Federspiel schwanger und wir sind bereichert mit einer herrlichen Beschreibung „Raub der Jungfräulichkeit am Waldesrand.“

Die zweite Sexszene spielt sich real im Herrschaftshaus des impotenten Litumlei ab. Zwei Ehefrauen hat er schon fortgeschickt, weil sie nicht schwanger werden wollten. Jetzt ist die Dritte dran, und sie langweilt sich furchtbar. Die meiste Zeit döst sie auf ihrem Sofa. John Kabys glaubt, sie – eine ziemlich hübsche Frau mit rundlichen Formen – aufheitern zu müssen. Und wie tut er das? Er säuselt die Treppe hinunter bis zu dem Gemach, wo sie sich aufzuhalten pflegte, und fand wie gewöhnlich die Türe halb offen stehen; ……. Vorsichtig trat er hinein und sah sie schlummernd daliegen, ein halb aufgegessenes Himbeertörtchen in der Hand. …… Er ging auf den Zehen hin, ergriff ihre runde Hand und küsste sie ehrerbietig. Sie regte sich nicht im mindesten; doch öffnete sie die Augen zur Hälfte und sah ihn, ohne den Mund zu verziehen, mit einem höchst seltsamen Blick an. John hat noch nicht den richtigen Mut, steigt zweimal wieder in sein Zimmer hinauf. …., zum drittenmal stieg er die Treppe hinunter, huschte hinein und blieb nun dort, bis der Patriarch nach Hause kehrte. Es verging nun kaum ein Tag, wo die zwei Leute sich nicht zusammenzutun und den Alten zu hintergehen wussten, dass es eine Art hatte.

Liebe Freunde, lasst eurer Fantasie freien Lauf, lasst euch die Aussage auf der Zunge zergehen, die Aussage „den Alten hintergehen, dass es eine Art hatte!“ Ich bin überzeugt, Gottfried Keller liess seine Fantasie lange spielen, ehe er diesen Satz schrieb.

Jetzt fühle ich euren stummen Aufschrei: Der Schibli, dieser alte Glüstler! Liest er denn nur dies aus Gottfried Kellers Werk und nicht all das Heere, Patriotische, Staatsbürgerliche?!

Gemach, gemach. Nehmen wir das berühmte Fähnlein. Was steht am Anfang? Zwei junge Menschen lieben sich: Karl, vierter Sohn des mittellosen Hediger, und Hermine, einzige Tochter von Frymann, einem wohlhabenden Krösus mit stattlichem Hauswesen. Für die zwei Väter, obwohl befreundet, kommt eine Liaison ihrer Kinder als unstandesgemäss überhaupt nicht in Frage. Und was ist der Schluss vom Fähnlein? Die Heirat von Karl und Hermine unter dem vollen Segen der beiden Herren Väter! Meine kühne eigene Interpretation von der ganzen Geschichte zwischen Anfang und Schluss: Gottfried Keller hat sie nur gebraucht, um zwei verschrobenen Vätern klar zu machen, dass echte Demokratie keine Standesunterschiede kennt, auch nicht für Liebende.

Oder die Novelle Ursula, eine eindrückliche, bedrückende Schilderung der jungen Reformation mit Aufbruchstimmung auf der einen Seite, Irrungen und Wirrungen auf der andern. Auch in dieser religionspolitischen Novelle steht am Anfang die Liebe von Hansli, einem stattlichen jungen Reisläufer, der nach acht Jahren Dienst aus Italien heimkehrt an den Bachtel, wo seine Jugendliebe Ursula auf ihn wartet. Ursula ist inzwischen aber zum radikal-reformierten Täufertum übergetreten, das Hansli nicht versteht. Er trifft Zwingli in Zürich, erlebt das hysterische Verteufeln des Täufertums, erlebt den Zwist mit den altgläubigen Katholiken, kommt im zweiten Kappelkrieg fast ums Leben – und findet doch am Schluss der Novelle zu seiner Ursula und zu einem friedvollen Leben in Liebe und Toleranz.

Liebe Freunde!

Gottfried Keller hatte – nach seiner Biographie zu schliessen – kein erfülltes Liebesleben.

Es bleibt mir ein Rätsel, wie er trotzdem so feinfühlig, verschmitzt, wissend, nie abschätzig, nie sarkastisch, nie verbittert über die Erotik schreiben konnte. Vielleicht sind halt doch nicht alle Männer gleichermassen hormongesteuert, wie ich glaube, aus meiner eigenen Erfahrung auf andere schliessen zu müssen.

Ein schönes Sechseläuten in Freundschaft in der Freiheit!

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