Rede am Grab 2013 (Dieter Fischer)

Sechseläuten 2013

‚Ich habe nichts aufs Spiel gesetzt, ich wollte nichts gewinnen, sondern einfach ein Gebot der Freundes-pflicht erfüllen, das heisst – ich glaubte eben nicht, dass es zum Zahlen käme, war vielmehr der Meinung, soviel mir noch vorschwebt, die Suppe würde wohl nicht so heiss gegessen werden, wie sie gekocht sei, und jeder wahre Freundesdienst sei mit einem Wagnis verbunden, sonst wäre es keiner.‘

Hochgeachteter Herr Zunftmeister, wohlweise Herren Alt-Zunftmeister, sehr geehrte Herren Ehrengäste und Gäste, liebe Mitzünfter und Zunftgesellen.

Es geht ja jedem Redner hier an dieser Stelle identisch. Im Rahmen der Vorbereitungen auf diesen Tag fragt man sich, wo nur soll ich im reichen Fundus von Kellers Werken ansetzen, um mehr oder minder gescheite und eigene Überlegungen an bereits viel früher Geschriebenes anzuhängen. Nach einigem Stöbern in allerlei Unterlagen, Dokumenten und Büchern, erkannte ich doch sehr schnell ganz viele spannende Textstellen, um gewissermassen einsteigen zu können.

So wirklich warm wurde ich dabei aber nicht, bis zu jenem Moment, als ich mich mit dem Roman‘ Martin Salander‘ beschäftigte. Da ging bei mir so richtig die Rakete ab – ich las und las und recherchierte und war auf einmal nicht mehr sicher, ob ich da aktuelle Zeitungsartikel lese oder ob das wirklich bereits vor mehr als 125 Jahren zu Papier gebracht wurde. Die Aktualität der Geschehnisse in Kellers letztem Roman könnte nicht realer sein.

Obwohl es verwirrend viele Interpretationen und Erklärungsversuche zu ‚Martin Salander‘ gibt, welche alle den Anspruch verfolgen, die wirklichen Botschaften Kellers, welche er an seine Leser transportieren möchte, herauszufinden, füge ich diesen allen Gedanken noch eine weitere und eigene Version zu. Kein Anspruch auf Kritik oder Besserwissen meinerseits verbindet sich damit, sondern einfach ein Versuch, Euch liebe Freunde, in den nächsten Minuten in meine Gedankenwelt mitzunehmen.

Der Kern des Romans ‚Martin Salander‘ spielt in einer Zeit des Wandels – auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und auch rechtsstaatlicher Ebene.

So gehörte es zu den grossen Errungenschaften im wachsenden demokratischen Denken jener Zeit, dass sich ‚jedermann‘ einen Kredit nehmen konnte, insbesondere neu für die gewerbliche & bäuerliche Bevölkerung. Andersartige Unabhängigkeit, neue wirtschaftliche Entwicklungen, unbekannte aber faszinierende Geschäftsmodelle sowie aber auch Gefahren gingen damit einher. 

Es ist die Zeit, so kann man lesen, des Übergangs vom Herrenbauer zum Schuldenbauer. Es ist die Zeit der Bankgründungen – es ist die Zeit der teilweisen Ablösung der Arbeit durch das Kapital. Es ist auch die Zeit, in welcher die engen regionalen, ja nationalen Grenzen gesprengt, Erfahrungen und Arbeit aus dem Ausland nachgefragt wurden.

Diese Fortschrittsperspektiven machten sich allmählich in den Köpfen fest, ohne dass sich abzeichnete, wo genau der Weg hingehen sollte – diesen aber nicht zu verpassen und Teil zu haben daran, war die Devise von Vielen. Die Aussicht auf Wohlstandsgewinne drang auch in ein sich veränderndes Verständnis der gesellschaftlichen Rollen- und Verantwortlichkeiten ein.

Was oder wer bin ich in der gesellschaftlichen Hierarchie? Was kann oder soll ich alles erreichen können und auch ausprobieren wollen?

Dazu kamen – zu guter Letzt – aber auch neue Ansprüche an den Staat bzw. staatliche Institutionen, an das Recht auf mehr  Gleichheit für alle, sei dies für auf dem Lande oder in der Stadt Geborene, an das Recht im Zugang zu Bildung – in diese Phase fällt die Gründung der Sekundarschulen – an das Recht im Gebrauch der Sprache, was alles unter dem Strich die Erreichung ‚höherwertiger‘ gesellschaftlicher & wirtschaftlicher Ziele möglich machte. Die Moderne sollte auf der Basis der Volkssouveränität errichtet werden.

Ein schönes Beispiel dieser Veränderungen spielt gleich zu Beginn des Romans – Ihr erinnert Euch an die Szene am Brunnen, welche Martin Salander gleich nach seiner Rückkehr aus Brasilien erlebt. Die Wäscherin Amalie Weidelich stürzt herbei und reklamiert

‚….der Hut sei nicht geraten, die Blumen stellten nichts Rechtes vor, sie wolle ebenso schöne und grosse, wie andere Frauenzimmer, und weisse Bänder statt der braunen. Sie wüsste nicht, warum sie nicht ebensogut weisse Bänder tragen dürfte, wie diese und jene, und wenn sie auch keine Rätin sei, so werde sie dereinst vielleicht eines oder zwei solcher Stücke zu Schwiegertöchtern bekommen!‘

Im weiteren Gang dieses Dialogs fragt Martin Salander dann noch nach dem unterschiedlichen Gebrauch der Worte Mutter und Mama nach, was Streitpunkt der Knaben war. Amalie Weidelich antwortet:

‚Wir sind hier nicht Volk, wir sind Leute, die alle das gleiche Recht haben, emporzukommen! …..Und für meine Kinder bin ich die Mama, damit sie sich nicht vor dem Herrenvolk zu schämen brauchen und einst aufrechten Hauptes durch die Welt gehen dürfen! Jede rechte Mutter hat die Pflicht, dafür zu sorgen, weil es Zeit ist!‘

Also, Emporkommen ist die Devise der Stunde. Wir erinnern uns, der Arbeitstitel für diesen Roman hat Keller mit Excelsior – also ‚höher empor‘ – festgelegt – er meinte damit Aufwärtsstreben im schlimmen Sinne. Diese ursprüngliche Positionierung von Kellers Werk führt mich in den folgenden Ausführungen zu drei sehr persönlichen Gedanken. Sie drehen sich um die Worte Gier, Freiheit und Vertrauen.   

Zum Wort Gier: Die Gier des Louis Wohlwend wie auch der Zwillinge Isidor und Julian Weidelich zeigen die negative Ausprägung des Wortes – hinauf, koste es was es wolle, auch unter Umgehung von bis dato geltenden Regeln wie Achtung der Freundschaft – gegenüber Martin Salander, Ehrlichkeit – gegenüber den Schwestern Setti und Netti Salander und Selbstachtung – im Kontext des Auswürfeln der politischen Gesinnung. Dabei bedeutet Gier bzw. Begierde im Kern eigentlich etwas sehr Positives. Es bedeutet der seelische Antrieb zur Behebung eines Mangelerlebens – verbunden mit dem Wunsch, sich den Gegenstand oder Zustand, welcher diesen Mangel beheben kann, anzueignen. Gier oder eben Begierde ist damit auch in weiten Teilen ein bedeutender Treiber für Fortschritt und damit auch wirtschaftlichem Wohlstand. Was lesen wir dagegen heute an Schlagzeilen: die Gier der Banker und Broker hat die Finanzwelt in die Krise geführt. Die Gier der Investmentbanker nach exorbitanten Boni ist des Übels Quelle.

Die Gier nach Macht und damit zu mehr Geld hat die Topmanager mittlerweile zu Abzockern mutieren lassen. Grenzenlose Missachtung von minimalsten Regeln des Anstandes, der Ethik und der verantwortungsbewussten Selbsteinschätzung der eigenen Position sind die Ursachen der aktuellen Krise. Gier wird zur Habgier und damit zum übersteigerten Streben nach materiellem Besitz, unabhängig von jedem Allgemein-Nutzen mit Ausnahme dem Ziel der egoistischen Maximierung – oft materieller Ziele.

Zum Wort Freiheit: Freiheit in der Zeit Martin Salanders hat vorallem der Willens- und Handelsfreiheit neuen Glanz verliehen – in beiden Ausprägungen verstanden als Frage der Selbstbestimmung. Tun und lassen, was ich will und dies ohne Zwang, prägte den Aufbruch. Ob es Louis Wohlwends Entscheid war, seine Geschäfte immer wieder von neuem und in unbekanntem Umfeld anzugehen, ob es die Entscheidung Martin Salanders war, letztlich einen Teil seines beruflichen Weges im Ausland zu gehen, seinen gelernten Beruf als Lehrer gegen jenen des Unternehmers zu tauschen oder die für die Familie Salander überraschenden Wegentscheidungen des Sohnes Arnold – alle diese Beispiele waren möglich auf Grund der persönlichen und staatlichen Freiheiten. Diese so positionierte Freiheit bedeutet aber auch Erlangen von Macht.

Macht verstanden einerseits als Möglichkeit, auf das Verhalten und Denken von Personen und gesellschaftlichen Gruppen einzuwirken, andererseits die Fähigkeit, Ziele zu erreichen, ohne sich vermeintlichen äusseren Ansprüchen unterwerfen zu müssen. Ist man in dieser Machtposition, ist es aber auch entscheidend zu verstehen, dass dieser Freiheitsraum Grenzen vorsieht. Nur wer die Grenzen kennt, kann verstehen, was Freiheit bedeutet und kann demzufolge dann – und nur dann – auch machtvoll damit umgehen. Verfolgen wir aktuelle Topmanager oder Ehemalige, dann erleben wir, wie liederlich mit Macht umgegangen wird. Keine der vorgenannten Spielregeln werden umgesetzt, es fehlenden die unternehmensinternen Regulatoren.

Dagegen regiert Selbstüberschätzung, fehlendes Augenmass und eine zum Teil nicht zu überbietende Arroganz. Vas-es-alles (oder so ähnlich) für Blüten treiben kann, haben wir unlängst erlebt. Wie am Beispiel von Louis Wohlwend scheint der Gang ins Ausland dann die Konsequenz, allem und allen den Rücken zu kehren, um sich so der allerletzten Verantwortung auch noch zu entziehen – dem Dialog mit den Mitbürgern. Der gesellschaftliche Seelenfrieden ist in Gefahr.

Verfolgen wir dazu die Wortsalven am Stammtisch der Neuzeit – Facebook und andere soziale Netze sind hier die relevanten Plattformen – dann stellen wir mit Schrecken fest, mit welcher Heftigkeit den Gefühlen freien Lauf gelassen wird. Das müssen wir ernst nehmen und uns auch nicht wundern, wenn in der Folge mit anderen Mitteln und auf dem Boden der Volkssouveränität versucht wird, diesem Treiben Einhalt zu gebieten.  

Marie Salander hat sich dazu – als ihr Mann Martin Salander ihr den zweiten Vertrauensbruch des Louis Wohlwend beichtete – wie folgt geäussert:

‚Unsere letzte Jugendzeit hat er vernichtet, der Hund! Wo ist er hin damit, der Blutegel? Kann man ihm kein Salz auf den Rücken streuen? Kann man ihn nicht zusammenpressen, den Schwamm, der alles aufsaugt? Dieser verfluchte Landschaden! Wart, Mann! Wenn du ihn nicht bändigen kannst, so will ich den Sohn für ihn erziehen, dass er ihm einst den Lohn gibt! Jetzt weiss ich auch, warum mich immer eine Art Ahnung beschlich, wenn ich den Marder sah mit seinem glatten Balg.‘

Es gibt genügend Potenzial, die vielen weiter oben beschriebenen Freiheiten positiv und zu Gunsten vieler zu nutzen – dazu braucht es aber etwas mehr Bodennähe, einen Sinn für massvolle Entscheide und auch Mut, sich unbeliebt zu machen. Wer so damit umgehen kann, muss sich auch nicht der moralischen Frage stellen, ob er den ausbezahlten Lohn ver-dient hat oder ob er nur überwiesen wurde.

Zum Wort Vertrauen: Nach der erwähnten Beichte von Martin an seine Frau Marie und deren Ausbruch über den gemeinen Hund Wohlwend nimmt er ihre Hand und sagt:

‚Liebe Marie!, sagte er mit weichem Ernste, sei nicht so untröstlich! Es ist ja nur Geld! Soll dies das Einzige und Höchste sein, was wir haben und verlieren können? Besitzen wir nicht uns selbst und unsere Kinder? Und soll dieser Trost auf einmal leerer Gemeinplatz sein, sobald es uns und nicht andere Leute angeht?‘………..‘Wenn wir uns nur ganz gelassen benehmen, so wirst du sehen, dass wir den Ausweg schon widerfinden!‘ ……..

‘Es war in der Tat beinahe die Beschämung eines Kindes, mit der sie die Augen zu ihm aufschlug, aber ebenso kurz andauernd, da ein Strahl besseren Mutes und Vertrauens das Gesicht überflog. Denn sie sah den Mann seiner Lage gewachsen und imstande, sie, die Gattin, zu ermahnen und aufzurichten;‘

Vertrauen ist die subjektive Überzeugung zu Richtigkeit, das innere Ja sagen an den Glauben der Redlichkeit von Handlungen, Einsichten und Aussagen eines anderen.

Damit dieser Glaube an die Redlichkeit auch wirklich greift, braucht es Regeln, Spielregeln entlang welchen man die Messlatte ansetzen kann. Regeln regeln das Zusammenwirken und organisieren so das Miteinander. Regeln ziehen die Linie zwischen Freiraum und Grenzen und spiegeln die Werte einer Gemeinschaft, sind also nie Selbstzweck. Der Roman Martin Salander zeichnet nicht nur eine Zeit des Wandels, sondern spiegelt auch eine Zeit der fehlenden Orientierung und des Mangels an Werten. Verfolgen wir die Diskussionen in der aktuellen Schweiz, so erkennen wir dazu unschwer Parallelen.

Exponenten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gelingt es schlecht, das Vertrauen – getrieben durch Ihre Handlungen, Aussagen, Gegendarstellungen, Rücktritte – auf breiter Basis auf- und auszubauen. Klare Orientierungshilfen in brennenden gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen fehlen. Richtwerte im Umgang mit Machtpositionen sind ungenügend erkennbar.

Hier liebe Hottinger Freunde sind wir doch aufgefordert zu handeln. Nehmen wir das Heft in die Hand und arbeiten wir – jeder in seiner Position – an der Fortschreibung eines tragfähigen Wertesystems als Basis einer nachhaltigen Entwicklung unserer Nation. Nutzen wir die Triebfeder der Be-Gierde, packen wir die Freiheiten zum Wohle aller und bauen wir auf Vertrauen in Freundschaft.

In diesem Sinne hat mich das Befassen mit Martin Salander nicht an das Gestern, sondern vielmehr an das Heute erinnert.

Mit meinem letzten Zitat aus Kellers ‚Fähnlein der sieben Aufrechten‘ schliesse ich:

‚Glücklicherweise gibt es bei uns keine ungeheuer reichen Leute; lass aber einmal Kerle mit vielen Millionen entstehen, die Herrschsucht besitzen, und du wirst sehen, was die für Unfug treiben.‘ ………. ‚Es wird eine Zeit kommen, wo in unserem Lande, wie anderwärts, sich grosse Massen Geldes zusammenhängen, ohne auf tüchtige Weise erarbeitet und erspart worden zu sein; dann wird sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch.‘

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