Sechseläuten 2021
Hochg’achtete Herr Zunftmaischter,
hochg’achteti Herre-n-Altzunftmaischter,
liebi «Hottiger Zeufter»,
my g’schetzte-n-Urgroossunggle.
Y kenn di, well my Groossbabbe vo dir verzellt hett, uss dr Schuel nadirlig, au vom Lääse vo dyne Täggscht und G’schichte-n-und – nit z’letscht wääge de Vorberaitige uff die ‹Reed am Grab› – uss dyne, im Raame vo dr ‹Historisch-Kritische Gottfried-Keller-G’samtussgoob› hervorragend ufberaitete Brief.
In de-n-ältere-n-und au in de neijere Biografie findet me verschideni Charakteraigeschafte, wo me dir (g’rächtfertigt oder au nit) zueschrybt.
Daas hett mi aag’schtachlet, ebbis gnauer aanez’luege, was es mit sottige-n-Aigeschafte-n-effektiv uff sich hett.
Wenn also Biograafe dy Lääbe-n-analysiere-n-und beschrybe, au wenn dyni Zytg’nosse brichte, so fallt mer uff, es kemme-n-allewyl wiider Aigeschafte wie
kämpferisch, schtrytbaar/schtrytlustig, dringgfest, sogar gottlos fiire.
Wemme denn gnauer aaneluegt, so schtellt me-n-aber au schnäll fescht, wie fynfiilig, jä gar verletzlig dää Gottfried Keller ebbe-n-au g’si isch.
Leen Si mi, liebe Hottiger, in de näggschte baar Minute d’ Aigeschafte kämpferisch, schtrytbaar/schtrytlustig, dringgfest und gottlos mit kurze-n-Usschnitt uss Brief vo mym Urgroossunggle untermuure, aber au no zwai vo mir sälber zueg’ordneti Charakteraigeschafte, wo me-n-in Biografie eher sälte ussfiehrlig be-schribe findet, nämmlig fynfiilig und verletzlig, ebbis g’nauer daarleege.
Kämpferisch,
saage vor allem älteri Biograafe-n-und Zytg’nosse, sygsch du g’si. Do derzue zitier y uss aim vo dyne iber 100 Brief, wo du mit em dytsche Dramatiker, Ibersetzer und Nobälbrysträger Paul Heyse ussduscht hesch. Aprille 1871.
«Die Franzosen, die mit ihren rothen Hosen unsern feinern u gröbern Pöbel toll gemacht haben, sind wir nun los.
Das Geheimniss der dicken Freundschaft liegt darin, dass leider ein Theil unsers Volkes sich selber für solche Teufelskerle hält, wie die Franzosen seien, und zwar weil sie ahnen, dass es leichter ist, denselben zu gleichen, als den Preußen. Die Zeit muss da das ihrige thun und ad oculos [vor den Augen] demonstrieren. Meinerseits gedenke ich, auch poetisch-schriftstellerisch vorzugehen u den Patriotismus einmal in Tadel statt in Lob zu exerciren und will sehen, ob mir die Bestien auch die Fenster einwerfen werden.»
Daas deent doch rächt kämpferisch…
Schtrytbaar/schtrytluschtig,
verzelle Zytg’nosse-n-und Biograafe, sygsch du g’si: In dym Brief an Hermann Hettner, Literatur-/Kunschthischtoriker und Museumsdiräggter in Dresde vo Ändi Jänner 1860, blitzt dy Aagriffsluscht so richtig uff.
«Wie es mit der Angelegenheit des Polytechnikums steht, weiß ich nicht, da der Präsident Kappeler seit mehreren Wochen in der Bundesversammlung zu Bern sitzt.
Ein ärgerliches Gelächter haben mir dieser Tage einige Hefte der Zeitschrift ‹Teut› erregt, worin ein Rudel Schwachköpfe die Stiftung einer neuen ‹Sturm und Drangperiode› verkünden, aus deren Gährung die potenzirten künftigen Göthe und Schiller hervorgehen sollen.
An sittlicher Haltung und an allgemeinem Verstand ist man seit hundert Jahren im Ganzen nicht viel vorwärts gekommen, sonst wären dergleichen Kindereien nicht möglich.
Auch in der Schweiz hat der Dr. Eckardt, ein vollendeter Marktschreier und falscher Prophet, der zudem gar keine Kenntnisse besitzt, einen ästhetischen und dilettantischen Schreibeschwindel entfacht unter dem Stichwort ‹nationaler Kunst u Literatur›, wie man ihn hier früher nie gekannt hat.
Ein ganzes Bataillon von drucksüchtigen Pfaffen, Gerichtsschreibern, Sekretärs, Kellnern und Handelskommis hat die Canaille auf die Füsse gebracht, fordert sie auf, ihm ‹nationale Dramen› zu liefern, ‹Volksgedichte›, ‹Volksromane› etc. und belobt ihren Fleiss. Es ist eine völlige Sündfluth, die der Bursche losgelassen hat.
Die Gebildeten, welche dem Treiben zusehen, werden von ihm als schlechte Patrioten denunzirt (er selbst ist nämlich ein geborner Wiener od. Oestreicher)…
Kurz, es geht jetzt allenthalben, trotz der Schillerfeier, wieder zu, als ob weder ein Lessing noch ein Schiller je gelebt hätte.»
Zimmlig aagriffig, nit woor?…
Tringgfescht,
beleege Zytg’nosse-n-und Biograafe, sigsch du g’si: Ass es dy Wunsch g’si isch, Mooler z’wärde-n-isch bekannt und – ass du in Berlin Theaterschriftschteller/Dramatiker hesch welle wärde-n-au. Dr Umgang mit de Theaterlit, de Kinschtler in Minche, Berlin und Ziri, aber au dy Schtudäntelääbe-n-in Haidelbärg, hänn – fascht automatisch – g’mietligi Schtunde-n-in öffentlige Lokal ergää und es isch dir g’lunge-n-in dääre-n-Umgääbig haimisch z’wärde.
Doo derzue e kurze-n-Usszug uss aim vo dyne Brief uss Berlin an ditsche Lyriker Hermann Ferdinand Freiligrath vom Septämber 1850.
«…das sogenannte Bayrische Bier, eine abscheuliche Brühe, welche krank macht. Ich habe es im Anfang auch getrunken, verspürte aber bald ein verdächtiges asiatisches Mouvement in meinen Eingeweiden und faste jetzt lieber so lange, bis der Betrag einer halben Flasche Rotwein erspart ist, wozu ich dann jedesmal aus der Privatschatulle meiner Liederlichkeit die andere Hälfte füge und still und vergnügt eine Ganze trinke.
Dies gibt mir Veranlassung, bessere Gesellschaft zu sehen in den Weinstuben, wo vernünftige Weinländer mit dicken Bäuchen und jovialen Gesprächen zusammensitzen, denen ich gern zuhöre in einer Ecke, den heimatlichen Lauten besserer Zonen lauschend.»
Doo basst doch e g’mietligs Proscht und zem Wool…
Gottlos,
sait me, sygsch du g’si: Ze dämm Schtichwort ha-n-y e-n-Uffsatz vo dir zem Gotthälf sym «Ueli der Pächter» vo 1855, in klaarem, aber versöönligem Doon abg’fasst, g’funde.
«Fragen wir nun nach dem Prinzip, welches Gotthelf seinen Uli gerettet hat, so finden wir ein strenges, positives Christentum. Darüber ist nicht mit ihm zu rechten. Etwas ist besser als gar nichts, und mit einem Menschen, welcher den gekreuzigten Gottmenschen verehrt, ist immer noch mehr anzufangen als mit einem, der weder an die Menschen noch an die Götter glaubt. Wo reine Humanität fehlt, da muss die Religiosität das Fehlende ersetzen; wenn sie nur erwärmt und erhebt.
Aber die Art und Weise, wie Gotthelf seinen Zweck verfolgt, ist zu verwerfen, nicht nur weil sie pfäffisch und bösartig ist, sondern auch weil sie seine Schriften verdirbt.»
Fir e-n-Atheischt und fir dr Verfasser vo de Bättdaagsmandat vom Zircher Regierigsroot, rächt z’rugghaltend und verseenlig formuliert, main y…
Fynfiilig –
mecht y doo ergänze – bisch du au g’si: Fyng’fiil puur mit dyne-n-aigene Wort, im – allerdings n i e a b g’s c h i g g t e – Brief an d’ Johanna Kapp, dr Tochter vom Haidelbärger Philo-sophieprofässer Christian Kapp, vom Dezämber 1849.
«Trotz des leidenschaftlichen Lebens, welches ich seit einiger Zeit geführt habe, hätte ich doch nicht geglaubt, dass es mir noch so elend zu Mute sein könnte, als es mir vergangene Nacht und den Morgen darauf gewesen ist.
Ich war die letzten Wochen hindurch sozusagen glücklich gewesen, ich kannte nichts Wünschenswertes mehr, als einige Stunden mit Ihnen zuzubringen, und war ich bei Ihnen, so dachte ich in glücklicher Vergessenheit weder an die Zukunft noch an die Vergangenheit, nicht an mich selbst und nicht einmal an Sie.
Ich hatte von der ganzen Welt genug, wenn ich auf den Bergen hinter Ihnen oder neben Ihnen hergehend Ihre Stimme fortwährend hörte und manchmal in Ihr Gesicht sah oder im Zimmer auf Ihre Hände schauen konnte, wenn Sie etwas arbeiteten.»
Vyl Fyngfiil und Diefgang zaigt do dy empfindsams Wääse…
Verletzlig –
und doo bi-n-y mer ganz sicher – bisch ebbe-n-au g’si: Wie verletzlig du di zaige kasch, belegt e-n-Usszug uss eme lange Liebesbrief an ‹dy Wintherthurerin›, d’ Kaufmaastochter Luise Rieter, vom Oggtober 1847:
«Ich möchte Ihnen so viel Gutes und Schönes sagen, dass ich jetzt gleich ein ganzes Buch schreiben könnte; aber freilich, wenn ich vor Ihren Augen stehe, so werde ich wieder der alte unbeholfene Narr sein und ich werde Ihnen Nichts zu sagen wissen.
…und ich habe lange genug nichts gesagt und einen traurigen und müssigen Sommer verlebt und ich muss endlich wieder in mich selbst zurückkehren.
Wenn mich eine Sache ergreift so gebe ich ihr mich ganz und rücksichtslos hin und ich bin kein Freund von den neumodischen Halbheiten.»
Verletzligkait in höggschter literarischer Qualität formuliert… (…und – ganz bsunders schmärzlig – du und dy Winterthurerin hänn sich noo däm Brief nie me gseh).
Liebe-n-Urgroossunggle, mir baidi daile – was mii aagoot, syt zimmlig gnau 75 Joor – dr g’meinsami Namme.
Leen si mi, liebi Hottiger, bitte zwai vo viile-n-Anekdote looswärde, wo uffzaige, waas me mit dämm Namme so erlääbe kaa. Die ainti Anekdote betrifft e-n-Uffgoob vo mym Sohn Andreas (Ururgroossneffe vom Gottfried Keller) im Schuelfach ‹Ditsch›. Wie mer sy Ditschlehrer b’richtet hett, hätt äär e-n-Arbet iber «Kleider machen Leute» vom Keller schrybe sölle.
Sy Reaggzion gegeniber sym Ditschlehrer: «Herr Doggter, y schryb grundsätzlig nie iber my Verwandtschaft…» .
Waas en allerdings nit vor ere Buechbeschprächig verschoont hett, es isch denn halt e-n-andere Zircher Schriftschteller zem Zug koo: Nämmlig dr Conrad Ferdinand Meyer.
Die anderi G’schicht isch e Klassiker.
In ere Buechhandlig such y e Buech. Es isch grad nit am Lager. «Darf y iine daas Buech b’schtelle?», froogt die frindligi Buechhändlere-n-und – «wie isch denn iire Namme?».
«Keller», isch my Antwort.
E bitzli verlääge frogt d’ Buchhändlere: «Und dr Vornamme?» «Gottfried», saag y denn. – Pause.
Unglaibigs Notiere vom ganze Namme: GOTTFRIED KELLER.
Dʼ Buchhändlere-n-isch sich nit ganz sicher, eb si jetz nit graad uff e-n-Arm g’noo worde-n-isch.
Am näggschte Daag; ’s Buech abhoole.
Uss dr Buchhändlere hett ’s uuseg’schprudlet: «Herr Keller, my ganzi Verwandtschaft waiss vo iine. Dehaim ha-n-y g’frogt:
‹Wisset iir, wäär hit by mir in dr Buchhandlig g’si isch?›.
Aber kaine hett ’s verroote!»
Zem Schluss, sehr g’ehrti Hottiger – und ganz schpeziell: hochg’ehrter Urgroossunggle:
Doomools – voor zwai Joor – kurz voor dym 200. Geburtstag am Säxilite 2019, ha-n-y scho saage welle-n-und y saag ’s hit genau soo aggtuell und ditlig:
Y bi iberzigt, ass d’ Wält – bsunders hitzedaags –
pointiert dänkendi, grosshärzig empfindendi, kompetänt kommunizierendi Mensche mit ere klaare Haltig, wie dii, gut kennti bruche – jä, si hätt sottigi Mensche sogar bitter nötig.
Dangge –
und uns allne, liebi „Hottiger Zeufter”, winsch y – in dääre schpezielle Laag – e bsundere, unvergässlige Säxilitedaag 2021: «In Frindschaft in dr Freihait».
Gottfried Keller