Wenn ich die Vermessenheit habe, heute, im Jahr des 150. Geburtstags unseres Gottfried Keller, einige Worte an Sie zu richten, so tue ich dies aus verschiedenen Gründen. Einmal war es der Wunsch unseres Zunftmeisters, es möchte ein junger Zünfter, der nicht im voraus fachlich zu einer Gedenkrede prädestiniert sei, seine Gedanken zu diesem Tag hier vortragen. Zum andern habe ich zum Prosawerk von Gottfried Keller eine jahrzehntelange Beziehung, die vielleicht für meine persönliche Entwicklung nicht ohne Einfluss blieb. So spreche ich denn nicht als Intellektueller der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Ihnen – Mediziner zählen für mich nur ganz bedingt zu den sogenannten Intellektuellen – sondern als Zeitgenosse, als sich verantwortlich fühlender Mitbürger, der mit diesen Worten „Meister Gottfried“ seinen Dank abstatten möchte für die unzähligen tiefempfundenen Anregungen, für die – biologisch gesprochen – formativen Reize, die er aus seinem Werk empfangen durfte.
Nach mehr als 25 Jahren blätterte ich wieder einmal in einer Biographie Kellers und war zutiefst erschüttert über das Unglück, das in mehreren Wellen über die Familie unseres am 19. Juli 1819 geborenen Dichters hereingebrochen war. Zwischen 1822 und 1824 verloren die seit 1817 verheirateten Eltern Gottfried Kellers drei Kinder im Alter von ein bis vier Jahren. Der schlimmste Schlag traf die Familie 1824, als der Vater Rudolf mitten aus rüstigem Schaffen und hochgemutem Streben heraus an Schwindsucht starb. Der letzte schwere Verlust traf die junge Witwe, als sie kurz nach dem Tod ihres Mannes ein sechstes Kind noch im Wochenbett wieder verlieren musste.
Dass seelischer Schmerz und finanzielle Not von Frau Elisabeth, der Mutter des jungen Gottfried, in vorbildlicher Weise verarbeitet werden konnten und sie dergestalt gestärkt aus den schweren Jahren hervorgehen durfte, dass sie Geduld, Verständnis und erzieherische Einflüsse in den schwierigsten Jahren gestörter beruflicher Entwicklung ihres einzigen Sohnes immer bewahren konnte, muss als eine selten glückliche Fügung des Schicksals bezeichnet werden. Gottfried Keller, der vaterlos Aufgewachsene, der seine frühe Jugend in einem von zahlreichen Mietern und Kostgängern der Mutter bevölkerten Haus, also – modern gesprochen – in einem sozial und familiär ungünstigen Milieu, verbringen musste, scheint mit seiner späteren beruflichen Entwicklung, seinem ganzen Leben und insbesondere seinem Werk den bekannten Satz seines Zeitgenossen Jeremias Gotthelf, den dieser am Schützenfest 1842 in Chur aussprach, zu widerlegen:
„Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland“.
Welche Interpretationen hat dieses geflügelte Wort in der kleinbürgerlichen Welt bis auf den heutigen Tag nicht schon erhalten! Ist aber die Entfaltung der Persönlichkeit Kellers nicht mit einer der besten Beweise für die Richtigkeit der modernen Interpretation von Gotthelfs Aussage: Die glücklichen Kombinationen von Erbfaktoren, für die niemand verantwortlich gemacht werden kann, bilden die Grundmauern der Persönlichkeit, auf die unzählige Einflüsse, Eindrücke – um noch einmal den modernen Begriff zu gebrauchen -, formative Reize, eben alles, was das Zuhause bietet, einwirken. Diese Einflüsse werden vom Jugendlichen verarbeitet und zur Persönlichkeit aufgebaut gemäss den ihm zustehenden erbmässigen Möglichkeiten. Gottfried Keller, der wegen eines Schulbubenstreiches von der damals neugegründeten Industrieschule weggewiesen, also vom System, dem „Establishment“, in den turbulenten Strom des Lebens hinausgestossen wurde, er, der zum Autodidakten, zum geistigen „Selfmademan“ wurde, er würde angesichts der Schwierigkeiten in Schule und Ausbildung, unserer Zweifel und Misstrauen an unserem Schulsystem wohl sicher die Worte des deutschen Philosophen Lichtenberg, der ein Jahrhundert vor ihm lebte, tolerieren:
„Ich fürchte, dass wir ob all unseren Erziehungsversuchen nur Zwergobst ernten werden.“
Ja, Zwergobst scheint der heutigen Gesellschaftsordnung mehr als nur Magenbeschwerden zu bereiten; sie muss sich gegen die Vergiftung der Jugend und gegen die Vergiftung durch eine irregeleitete Jugend wehren. Sicher hätte Gottfried Keller an unserer Jugend Freude, weil sie aktiv, interessiert, kritikfreudig, begeisterungsfähig, aber auch ausdrucksfähig und ausdruckswillig ist. Aber er, der Wortkarge, würde wohl das Diskutieren, die „Schnorrereien“ kaum dulden, er, den wir als Denker über dem halbgefüllten Glas vor uns sehen, der nur nach vielen Überlegungen und langem Überarbeiten seine Gedanken zu Papier brachte, er hätte wohl in diesem Punkt wenig Verständnis für die Jugend. Ja, er würde wohl der heutigen Jugend jene Worte als Gegendemonstration auf die Fahne schreiben, die er noch nicht 20jährig an seinen Freund Johann Müller schrieb:
„Den, der seinen Körper mit Absicht in einen schmutzigen Kittel steckt, verlache ich, und den, der sein Äusseres ekelhaft vernachlässigt, bemitleide ich; denn wenn der das Gefühl der Schönheit für sich selbst nicht hat, so hat er‘s auch nicht für die Natur, und wenn er es für die Natur nicht hat, so hat er einen Riss in seinem Herzen, der ihn zum kleinsten Menschen macht, ja sogar unter das Tier setzt, und wenn er sonst noch so gescheit wäre.‘‘
Es wäre sicher interessant, Gottfried Kellers Ansichten zu weiteren brennenden Problemen unserer Tage zu vernehmen. Er, der seine Mitbürger als Menschen so vortrefflich und mit viel Liebe in seinen Werken gezeichnet hat, er könnte wohl kaum den Stab brechen über die heutige Jugend oder die jetzt für das tägliche Geschehen verantwortlichen Männer. Er würde die Jugend sicher zur Mässigung mahnen und an das Wort im Giebel unseres Zunfthauses am Neumarkt erinnern:
„Suaviter in modo, fortiter in re.“ (Überlegt, behutsam in der Art und Weise, aber tatkräftig in der Sache.)
Meiner Generation würde er aber das Bild aus Martin Salander entgegenhalten:
„Wenn es Recht und Freiheit zu schützen gilt, sind wir verpflichtet, ohne Bangen und Zögern selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt.‘‘
Dass das Gastarbeiterproblem für Gottfried Keller keine Überraschung und menschlich kein Problem darstellen würde, das wissen wir ebenfalls aus Martin Salander. Dort lässt Keller seinen Held Pläne entwerfen für die Berufsausbildung und Berufsschulung bis zum 20. Altersjahr, Dinge, die heute weitgehend in dieser Art verwirklicht wurden. Was entgegnet die zuhörende Frau Marie Salander ihrem planenden Ehegatten Martin?
„Es fehlt mir noch etwas ziemlich Wichtiges an dem Programm … Ich meine den schrecklichen Kriegszug, welchen Schweizer nach Asien oder Afrika werden unternehmen müssen, um ein Heer von Arbeitssklaven heimzuführen oder besser ein Land zu erobern, das sie liefert. Denn ohne Einführung der Sklaverei, wer soll den ärmeren Bauern die Feldarbeit verrichten helfen, wer die Jugendlichen ernähren … bis sie 20 Jahre alt sind?“
Gottfried Keller sah also bereits die Heere von Arbeitern voraus, die wir als ungelernte Kräfte benötigen zur Verrichtung von volkswirtschaftlich-existentiell wichtigen Arbeiten. Menschlich gesehen würde er sicher den Gastarbeitern einen Platz einräumen in unserem Volk, denn es ist anzunehmen, dass – so wie er zu seiner Zeit für die Integrierung des Staatenbundes zum Bundesstaat, für eine Beseitigung des „Kantönligeistes“ kämpfte – er sich auch heute im grösseren Raum Europa für eine vernünftige und menschenwürdige Zusammenarbeit einsetzen würde unter der Devise:
„Achte eines jeden Vaterlande, das Deinige aber liebe!“
Es wäre reizvoll, Gottfried Kellers Stellungnahme zum Frauenstimmrecht zu hypothetisieren. Es würde dies aber zu weit führen, brauchte es doch viele Worte, um das Bild vom Frauenfeind Gottfried Keller zu korrigieren. Wir wissen, dass mindestens fünf Frauen in Kellers Leben eine nennenswerte Rolle spielten, Rollen, die aus zum Teil tragischen Gründen nicht zum glücklichen Ende kommen konnten. Darüber hinaus ist aber die Bedeutung von Mutter und Schwester im Leben des Dichters wohlbekannt. Wir wissen, welche starken affektiven Bindungen Gottfried Keller zu diesen beiden Frauen hatte, wie gross und aufrichtig seine Dankbarkeit ihnen gegenüber war. Es ist nur schwer denkbar, dass Keller in der Frauenstimmrechts-Frage von heute nicht ebenfalls einen aufgeschlossenen und modernen Standpunkt vertreten würde.
So glaube ich denn, dass wir heute uns hier nicht versammelten, um einen Kniefall vor einer Autorität zu machen – so traditionsgebunden sind die Zünfter von Hottingen wiederum nicht. Wir wollen vielmehr in Dankbarkeit eines Mannes gedenken, der noch heute selbst zu unseren Tagesfragen viel zu sagen hat, der zu seiner Zeit immer das vertreten hat, was er auf Grund seiner Kenntnisse und Überlegungen für das ganze Volk und unser Land als richtig erachtet hat, selbst wenn er der Obrigkeit dadurch im Augenblick unbequem und der Jugend zu wenig fortschrittlich war: Menschliche Güte und Grosszügigkeit, Toleranz im täglichen Leben, Achtung vor der Person: das sind Begriffe, die auch heute nur ein marxistisch-leninistisch oder faschistisch indoktrinierter Geist lächerlich machen kann.
Ohne Zweifel würde unsere Gegenwart auch für Gottfried Keller Aspekte bieten, die er nicht mit einer romanhaften Skizze beleuchten könnte. Die Kennzeichen unserer Gegenwart: Revolutionäre Bewegungen, die nicht aus Unfreiheit entstehen, Aufstand der wenigen, denen sich die Masse widersetzt, Ratlosigkeit der Autorität, der vielfältige Aspekt des innern Fraglichwerdens alter Ordnungen – all dies erscheint mir wie eine Zeitkrankheit, wie eine Schwäche, um deren Überwindung wir uns alle bemühen müssen. Gehen wir also hin, „treten ohne Bangen und Furcht selber vor die Haustüre und sehen nach, was es zu tun gibt!“